Südtiroler Autorinnen und Autoren haben ihre persönlichen Gedanken zur Autonomie in lyrische Worte gekleidet. Eine Zusammenarbeit mit der Südtiroler Autorinnen- und Autorenvereinigung SAAV.

Für Renata *

 

Ich blieb auf der Talferbrücke stehen, Renata, 

bei Dämmerung. Darunter sind ein paar Stämme 

mit freiliegenden Wurzeln, frierend, verlassen. 

Ich gehöre zu jenen, die sich ans Geländer lehnen, 

um die frische Strömung 

der Etsch zu spüren, 

oder, um eine Tochter Montezumas zu sein, 

 

damit, wenn die Nacht bleiartig sinkt, 

ebenso ein Teil von mir hinab auf die Wassermassen sinkt 

und diese durchforstet wie eine Gruppe von Krokodilen a

uf Futtersuche den Nil. 

Hunderte Schlösser beflecken die Luft mit feuchten Reflexen, 

und der Atem des Mondes tropft auf die Wangen junger Männer, 

die ein neues Bett suchen. 

Einer von denen hebt den Kopf und lächelt 

und im Nu: 

 

erstrahlen ausnahmslos die Lichter über der Stadt … 

 

Wie in den Armen des Menschensohnes zappeln 

Fledermäuse auf Neonbögen. 

Die Krokodile haben vielleicht noch kein Futter gefunden, 

aber ein anderer Teil von mir, 

der stets etwas anderes zu sein begehrt, 

nimmt seinen nächtlichen Flug über die Welt der Nacht auf. 

Vieles wird er sehen, und manches wird sein Herz zerreißen. 

 

Aber mehr als das kann er nicht tun. 

 

Ich suche eine Notliege für die, 

die sich plötzlich hinlegen, 

wenn sie unerwartet der Wunsch erfasst 

sich auf der Straße zusammenzukauern. 

 

Ich erlebe das oft, 

wenn ich im Dunkeln nach Hause gehe 

und ein wenig nach rechts neige. 2

Aus einem Lokal steigt der Duft von Pfeffer und geräuchertem 

                                                                                      [Fleisch. 

Die Menschen drinnen sehen schön und gesund aus. 

Von außen vibrieren Lichter und Farben. 

Auf der Straße, hochgewachsene ältere Menschen, trinken, 

reden mit lauter Stimme, manchmal singen sie. 

Wenn ich aber vorbeigehe, scheint es mir

als bliebe alles stehen. 

 

Renata, meine gute Freundin, 

du kennst diesen Gang, den du und ich in Durrës haben, 

als wären wir schläfrig auf Bettlacken, 

als schwimmten wir in einem Trog mit warmem Wasser. 

Genau diesen Gang der Autochthonen 

will ich hier haben, wie du und ich dort, 

wenn mein Bruder vom Mittagsschlaf aufwacht 

mit dem Lied von Metallica auf den Lippen: 

Nothing else matters. 

 

Aber die Blicke stechen mich, selbst wenn ich – zum Beispiel – 

ein Eis esse: ich gehe behäbig, schief gehe ich 

mit der Angst, zerstört zu werden. Niemand ist schuld. 

Das ist wohl das stetige Zögern des Dazugekommenen, 

mit seinem Kübel bei sich, wie Abdulah 

von Dakar nach Verona, 

von Verona nach Trento, von Trento nach Bolzano. 

Wenn ich mit dir bei der Alten Mühle wäre, 

wo die hohen Mietshäuser sich über das Amphitheater erheben, 

dann würden wir uns der Zeit entsinnen, als wir das Lied der 

                                                                                          [Mutter 

in dem kleinen Stadion unseres Viertels sangen. 

 

Aber ich weiß nicht, wie das Lachen der Autochthonen geht, 

das Lachen verwurzelter Sträucher, wilder Rosen. 

Ich verhalte mich, als würde ich einen Toten mitschleppen, 

den ich nicht getötet habe. Ich habe ihn auf dem Weg 

über die Grenze gefunden und muss ihm nun ein geeignetes 

Grab verschaffen, in dem seine Seele in Frieden ruhen möge. 

 

Gentiana Minga

 

* Auszug aus “Tempi che sono/ Zeiten wie/ Kohe qe jane” – ( dreisprachige Textsammlung – IT-ALB-DE)  Übersetzung W.Menapace&Ilir Ferra, edizione Terra d’Ulivi.

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Gentiana Minga, autrice e traduttrice di origine albanese. Nata il 12 aprile 1971 a Durazzo (Albania). Laureata in Storia e Filologia a Tirana(Albania) nel 1993. Ha lavorato come professoressa di lingua e letteratura albanese e come bibliotecaria alla Biblioteca Pubblica di Durazzo (Albania).

 

Im Text “per Renata” entfaltet sich Autonomie als eine subjektive, reflektierende Kontaktanbahnung zwischen Gegenwart und Erinnerung. Lesarten einer Zweitheimat.

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südTIROLoDLsüd 2022

Trepes eghes é rogorüdes

salvaries o urbanisades

die meisten Bäche wurden reguliert

tuttora ogni valle ha il suo fiume.

südTIROLoDLsüd 2022 é rich de fontanes

ega da bëre

quellenreich

oro blu.

Por corp y spirit

für Körper und Geist

per corpo e spirito.

Energia, forza eletrica, löms,

locomotives, emplanc portamunt,

rodes da munt, auti vá sën a strom,

elettricità chiamata naturale.

Reiches südTIROLoDLsüd 2022 ricco.

Zum Teil autonom, nicht unabhängig,

les tozes dal petrere rogor feter

te vigne termosifonn dles Alpes,

südTIROLoDLsüd 2022 dà acqua al mondo

mentre preleva il gas da paesi lontani e da acque profonde.

Energieautonomie ist nur eine Frage der Zeit,

ma il blackout pende come la spada di Damocle

sul südTIROLoDLsüd 2022.

Politica autonoma él ma en pert,

tles grifes dla Talia, dl’Europa,

dles acordanzes internazionales

südTIROLoDLsüd 2022 ne sciampa nia fora dla pel.

Die bäuerliche Illusion,

dass wir eigenartig und frei sind,

geht den Bach runter,

ormai non siamo più il centro del mondo

südTIROLoDLsüd 2022

fej pert dal monn

é pert dal monn co combat

con miliuns de migraziuns

por le scialdamont da tera.

Mittelpunkt der Welt waren wir bis gestern,

oggi siamo Europa e Dolomites–Unesco.

Die Zukunft verlangt

aus dem Stubenfenster zu schauen

Bereitschaft in die Wege zu leiten

aus den Tälern hinaus.

50 agn d’autonomia desco compromis de convivënza zivila

südTIROLoDLsüd 2022 é en möt corsciü y madü

mit einer Autonomie als Mittel

des demokratischen Zusammenlebens

autonomia come sistema di convivenza democratica

work in progress

und nun: auf in die Zukunft!

Guardiamo al futuro, biologico, autentico, sostenibile

frisches Wasser und reine Luft ist südTIROLoDLsüd 2022.

L’autonomia á energia y é energia,

tal sozial y cultural.

Kraft und Eenergie.

Avere ed essere energia pura

südTIROLoDLsüd 2022.

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Iaco Rigo, nasciü dal 1968 a Bornech da geniturs ladins, habitat a La Pli de Mareo. Dal 1994 presidont dal’assoziaziun artistica ladina EPL (www.ladinart.org). Dal 1994 coordinadú y publicadú dal “Calënder Ladin”. Ideadú y cofondadú dal’assoziaziun dai ciantauturs ladins (UCL – Uniun Ciantauturs Ladins). Publicaziun de plü libri por ladin. Teatri, musicals y libreti por spetacui. Traduziuns.

 

 

Der Autor wirft einen vielsprachigen Blick in die Zukunft der lokalen Autonomie, zeichnet diese entlang von Bächen und Landschaften nach und erkundet die Kräfte und Spannungen einer Demokratie.

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andersrum vielleicht

e forse uno qualcuno

quando dissero

los von rom

si dispiacque

moltissimo

scusate

abbiamo

sbagliato

ma siete sicuri

poi dissero pure

los von trient e

in trento chissà

uno qualcuno

disse che

peccato

com’è possibile

eravamo amici

per secoli più

o meno

ma

non c’era

niente da fare

vollero andarsene

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Jörg Zemmler, *1975, Seis, Wien. Zuletzt „Seiltänzer und Zaungäste“ (2019) und papierflieger/luft (2015) bei Klever, Wien. 2022 erscheint „Piano Bar“, Klaviermusik. 

 

Der Poet erkundet Autonomie und Freundschaft, im Spiel von Abwendung und Zugewandtheit. 

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