Eine Frage der Mitverantwortung

„Hi omnes linguā, institutis, legibus inter se differunt“ (Alle diese [Völker] unterscheiden sich voneinander in Sprache, Institutionen und Gesetzen) schreibt Caius Julius Caesar zu Beginn seines wichtigsten Werks „De bello gallico“. Er bezieht sich dabei auf die Bevölkerung des transalpinen Galliens. Was als eine nebensächliche Information erscheinen mag, entpuppt sich als bedeutungsvoll und folgenreich – was sich im weiteren Verlauf des Werkes herausstellen wird, wenn Caesar und seine Armee auf Unterschiede in den Charakteren, der Kriegslust und der Unterwerfung der zu besiegenden Völker stoßen. Mutatis mutandis kann man auch heute noch sagen, dass Sprache, Institutionen und Gesetze die drei grundlegenden Elemente der Identität einer jeden Bevölkerung sind, und Südtirols Wirklichkeit spiegelt dies beispielhaft wider. Oder fast, denn in der Tat stellt nur die Sprache ein völlig unterschiedliches Merkmal zwischen den drei Volksgruppen dar, die in diesem Land leben, während es in Tradition und Kultur, Gesellschaftsstruktur und Organisationen unterschiedlicher Art häufig Konvergenzen zwischen zwei oder auch allen drei Volksgruppen gibt. Die Feiern zum 50. Jahrestag des Zweiten Autonomiestatuts erinnern uns daran und gehen sogar darüber hinaus, was Julius Cäsar vor über 2000 Jahren feststellte: Sie lehren uns, dass Völker mit unterschiedlichen Sprachen und Institutionen koexistieren, interagieren und zusammenwachsen können, wenn es Gesetze gibt, welche die Rechte und Würde aller anerkennen, garantieren und fördern.

 

Die ladinischen Täler: eine reiche und bewegte Geschichte

Wie wir wissen, leben die Ladiner seit vielen Jahrhunderten in einem Gebiet, das eine besonders reiche und bewegte Geschichte hat. Die vielen Wechsel in Politik und Verwaltung, die Veränderungen in der sozioökonomischen Struktur hat eine vielfältige Wirklichkeit mit einer zunächst natürlichen, dann abgelehnten und schließlich geförderten Mehrsprachigkeit bestimmt, in Abhängigkeit von Regierung und Gesetzgebung – auferlegt oder demokratisch festgelegt. Das Zwanzigste Jahrhundert war in dieser Hinsicht besonders dramatisch und komplex, wenn es stimmt, dass es nach den beiden Weltkriegen entscheidende Interventionen von außen gab, die internationale Garantien sowie die Ausarbeitung von Ad-hoc-Regelungen und Sondergesetzen forderten, um den deutschen und italienischen Volksgruppen im Land ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen und vor allem die deutsche Minderheit zu schützen. Die ladinische Minderheit wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt in Betracht gezogen. 

 

Identität, Sprache und Kultur auf der Grundlage gemeinsamer Werte

Es ist daher fast verwunderlich, dass die Ladiner trotz der vielen Ereignisse, die ihre Geschichte tiefgreifend geprägt haben, mit Hartnäckigkeit Widerstand geleistet und ihre Identität, Sprache und Kultur bewahrt haben. Diese Identität und Kultur sind niemals etwas Abstraktes: Sie sind das Ergebnis von Interaktionen, Beziehungen und Vergleichen mit der Kultur anderer. So wie sich die individuelle Identität mit dem Alter, den persönlichen Lebensumständen und den zwischenmenschlichen Beziehungen verändert, so ist auch die kulturelle Identität einer Gruppe dem Wandel unterworfen, denn sie ist nicht etwas Unveränderbares, etwas in Granit Gemeißeltes, etwas für immer Abgesichertes. Dies gilt insbesondere für die Ladiner: Ihre Identität ist stark von Werten, Erfahrungen und Visionen geprägt, die sich im Kontext gemeinsamer Erfahrungen und Abkommen mit anderen Gemeinschaften Südtirols viel leichter zu Stande kommen. All dies macht das Autonomiestatut möglich, dessen Ausarbeitung und Legitimation auf dem Prinzip der Mitwirkung und Mitverantwortung beruht. Jede Volksgruppe hat ihren eigenen Schutz und ihre Besonderheiten, die jedoch in dem Maße gewahrt werden, wie die Besonderheiten der anderen Gruppen respektiert und geschützt werden. Es besteht also eine Verantwortung nach außen, was die rechtlichen und institutionellen Beziehungen zu den anderen Sprachgruppen angeht, aber auch eine Verantwortung gegenüber der eigenen Gruppe, um die Zugeständnisse zu rechtfertigen, die aufgrund der eigenen Besonderheit gewährt wurden.

 

Die Ladiner und die Autonomie

Das bedeutet, dass nicht einmal den Ladinern eine dauerhafte Identität sicher ist, auch wenn die Gesetze und Rechte schwarz auf weiß festgelegt sind. Nur wenn sie imstande ist, sich eine Identität aufzubauen, die den Herausforderungen der Assimilierung und den Auswirkungen der auseinadertreibenden Kräfte des Individualismus und der Globalisierung zu trotzen, kann die ladinische Gemeinschaft weiterhin ihre Rechte mündig und verantwortungsbewusst wahrnehmen. Auf einem Weg des Dialogs, der gemeinsamen Planung und der Einigkeit. Die heutige Realität sollte weder idealisiert noch geschmälert werden: Die Ladiner haben zweifellos großen Nutzen aus dem Autonomiestatut gezogen und müssen die vielen Rechte anerkennen, die ihnen garantiert sind. Aber Rechte auf dem Papier reichen nicht aus, um eine fruchtbare Gegenwart und eine glänzende Zukunft zu gewährleisten. Es braucht Visionen, Idealismus, Beteiligung und Mut: den Mut, die Ärmel hochzukrempeln, um den Rechten Inhalt zu verleihen, in dem Bewusstsein, dass die Zukunft in unserer Hand liegt.

 

Ein Schutz, den auch das Autonomiestatut möglich macht

Wir wissen aus der Geschichte, dass die Ladiner schwierige Zeiten durchlebt haben und in der Lage waren, auch dramatische Situationen zu meistern. Die Unterwerfung unter totalitäre Systeme hat das Überleben dieser Minderheit auf eine harte Probe gestellt. Sie hat diese Minderheit aber auch gestärkt, indem sie ihr ein Zugehörigkeitsgefühl und einen Stolz auf die eigene Identität verliehen hat, wie nie zuvor. Das Autonomiestatut hat es ermöglicht, Identität und Zugehörigkeit durch den Schutz der Minderheitenrechte und den muttersprachlichen Unterricht, die Möglichkeit der kulturellen Bildung, den sozialen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Entwicklung zu stärken. Der 50. Jahrestag des Zweiten Autonomiestatuts ist eine gute Gelegenheit, um mehr über diese juristische Kostbarkeit zu erfahren. Ein Regelwerk, das Sicherheit und Garantien bietet für die Wechselwirkungen des Zusammenlebens und der gegenseitigen Abhängigkeit der drei Sprachgruppen. Für die ladinische Minderheit ist es eine Pflicht, die Garantien des Autonomiestatuts und der nachfolgenden Durchführungsverordnungen anzuerkennen und zu würdigen. Die 50-Jahre-Feier sollte daher als Mahnung verstanden werden, dieses Erbe lebendig zu erhalten, durch eine konsequente Verantwortungsübernahme, oder besser gesagt durch Mitverantwortung, um die Bedingungen der Konfrontation, des Dialogs und der Zusammenarbeit bei der gemeinsamen Planung der Zukunft Südtirols bestmöglich zu gestalten.

Carlo Suani, nasciü a Cortina d’Ampëz, á insigné agn alalungia materies leterares tl Lizeum da La Ila. Sëgn él n colaboradù dla Intendënza y Cultura ladina. Al fej ativité de divulgaziun culturala, realisan trasmisciuns por le radio ladin y scrion articui por i foliec.

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