#2 Soziales Netz
Von Marokko nach Bozen: Jene von Momi ist eine filmreife Geschichte, die zeigt, dass körperliche Beeinträchtigung und Migrationshintergrund kein Hindernis für Integration sind.

Zum ersten Mal sah ich Momi im Supermarkt. Mein Sohn, damals drei Jahre alt, zog mich fragend an der Jacke. „Warum ist dieser Mann so klein?“. Hört Mohammed Al Masmoudi diese Anekdote, muss er lachen.  „Kinder sind so, sie sagen frei heraus, was sie denken. Mehr stören mich da die Vorurteile der Erwachsenen“, bemerkt er. Zehn Jahre später ist die Geschichte von Mohammed, den alle Momi nennen, eine erfolgreiche Integrationsgeschichte, aber nicht nur. Der 36-jährige stammt aus Marokko. Aber das ist nicht der Punkt. Was ihn von anderen unterscheidet, ist seine Körpergröße: Gerade einmal 116 Zentimeter misst er, ungefähr so groß wie ein sechsjähriges Kind. „Am schwierigsten für mich ist, in dieser Größe passende Kleidung zu finden, auf der keine Zeichentrickfiguren zu sehen sind“, scherzt er.

Seit 2006 wohnt Mohammed in Bozen und arbeitet als Techniker bei der Sozialgenossenschaft Gnews, die Videos für die Landesverwaltung produziert. Er ist mit einer Marokkanerin verheiratet und hat zwei Kinder, ein fünfjähriges Mädchen, das den deutschen Kindergarten besucht, und einen eineinhalbjährigen Jungen. „Beide wachsen dreisprachig auf“, erklärt er strahlend. „Zuhause spricht meine Frau arabisch und ich italienisch, im Kindergarten wird deutsch gesprochen.“ Auf das Thema Integration angesprochen, sagt er ganz klar: „Der Schlüssel dazu ist, deine neue Heimat als dein wahres Zuhause anzusehen. Ich bin jetzt in Bozen daheim. Nach Marokko fahre ich nur auf Urlaub.“

Fragt man nach seiner Geschichte, bekommt man Unglaubliches zu hören. Seine körperliche Beeinträchtigung hat keine genetische Ursache, vielmehr ist sie Ergebnis einer ärztlichen Fehlentscheidung. „Als ich ein halbes Jahr alt war, hat man mich im Krankenhaus von Casablanca von den Schultern bis zu den Füßen eingegipst. Das hat meine Wirbelsäule derart geschädigt, dass ich nicht mehr normal gewachsen bin. Ein normales Leben war von da an unmöglich, auch jegliche persönliche und berufliche Chancen hat man mir damit genommen“, erklärt er. Momi aber lässt sich davon nicht aufhalten. Er stürzt sich ins Studium und beginnt hinter einer Mauer von Vorurteilen seine Zukunft zu planen. Sein Traum heißt Deutschland. Anfang 2006 erhält er ein Touristen-Visum und fliegt nach Frankfurt. Seine Familie konnte damals nicht wissen, dass es acht Jahre dauern würde, bis sie ihn wiedersieht.

Mohammed Al Masmoudi kam 2006 nach Südtirol und arbeitet heute als Techniker für eine Sozialgenossenschaft.

Von Frankfurt will er nach Frankreich, weil er etwas französisch spricht und sich so einen leichteren Neuanfang verspricht. Momi nimmt den Zug nach Straßburg, wo er studieren will. Die nötigen Unterlagen hat er bereits beisammen, als sein Traum wie eine Seifenblase zerplatzt: Nach Unruhen in den Banlieus hat die Regierung Sarkozy auch die Zugangsmöglichkeiten an den Unis für Nicht-EU-Studenten drastisch eingeschränkt. Momi will nach Frankfurt zurück. Die Tatsache, dass er in den falschen Zug steigt und nach einer langen Irrfahrt schließlich am Brenner landet, sollte seine Zukunft völlig verändern. Im ersten Moment wähnt er sich in Deutschland, weil er deutsche Stimmen hört. Aber das Tor zu Italien stellt für ihn, der in diesem Moment nur schwarz sieht, die Chance seines Lebens dar.

„Ich war desorientiert und wusste nicht, wohin ich sollte. Vor meiner Abreise hatte ich mir aber geschworen, niemals illegal – ohne gültige Dokumente – unterwegs zu sein“, erinnert sich Momi. Aus diesem Grund peilt er Bozen an und sucht dort die Caritas auf. „Sie haben mir eine Unterkunft verschafft und geholfen, einen Asylantrag aus humanitären Gründen zu stellen.“ Mohammed nutzt die Zeit, um neue Leute kennen und die italienische Sprache zu lernen. Dann bekommt er den letzten von insgesamt zwölf vom Land finanzierten Praktikums-Stellen für Ausländer. „Ich war überglücklich, aber es sollte nicht so einfach werden, wie es aussah.“

"Der Schlüssel zur Integration ist, deine neue Heimat als dein wahres Zuhause anzusehen. Ich bin jetzt in Bozen daheim. Nach Marokko fahre ich nur auf Urlaub." Mohammed Al Masmoudi

Einen Tag vor Praktikumsbeginn erhält er einen Anruf. Ein minderjähriger Afghane, gleich hinter ihm auf der Liste der Praktikumsanwärter, wäre in seine Heimat zurück abgeschoben worden, wenn er das Praktikum nicht bekommen hätte. „Also habe ich auf mein Herz gehört und mir gedacht: Er hat den Platz notwendiger als ich“, so Momi. Zwei Wochen später ergibt sich eine neue Möglichkeit: Die Sozialgenossenschaft Independent in Meran organisiert Informatik-Kurse für Menschen mit Beeinträchtigung. Der damalige Präsident Martin Telser unterstützt Mohammed und dank des Europäischen Sozialfonds erhält er auch ein kleines Entgelt. „Nach all den Schwierigkeiten, kam mir endlich vor, ein neues Leben zu beginnen.“

Über Freunde aus der Filmschule Zelig lernt er, Filme zu schneiden, 2007 schließt er den Informatik-Kurs erfolgreich ab. Als er wegen seines Asylantrags nach Görz gerufen wird, ist das Glück noch einmal auf seiner Seite: Als nach dem Gespräch der Drucker für das Protokoll nicht funktioniert, nimmt er allen Mut zusammen und bietet seine Hilfe an. „Die Kommissionspräsidentin hat mich angelacht und in Italien willkommen geheißen. Diesen Augenblick werde ich nie vergessen“, erinnert sich Momi.

Mohammeds Tochter wächst dreisprachig auf: sie besucht die deutsche Grundschule, ihr Vater spricht mit ihr Italienisch, ihre Mutter Arabisch.

Dann kann Mohammed endlich eine Arbeit suchen. Seine Geschichte macht schnell die Runde. Debora Scaperotta von der Filmschule Zelig dreht einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Dalla testa al cielo“ über ihn. Von da an lässt ihn das Thema Film und Fernsehen nicht mehr los. Nach einem Praktikum bei Südtirol Informatik und der Genossenschaft Inside, wo er sich um die Grafik kümmert, kommt der Vorschlag von Matteo Donagrandi eine Sozialgenossenschaft des Typs B zu gründen. Das Ziel: Film- und Nachrichten-Beiträge zu produzieren. 2008 wird Momi Teil von Gnews und das Leben nimmt seinen Lauf.

 

Er sucht sich eine eigene Wohnung, stellt den Kontakt zu seiner Ursprungsfamilie wieder her, heiratet die Marokkanerin Souad Adib, die arabische Literatur studiert hat und als Buchhalterin arbeitet. 2014 erhält Mohammed die italienische Staatsbürgerschaft, im selben Jahr kommt seine Tochter auf die Welt. „Endlich konnte ich nach Marokko zurückkehren und allen zeigen, dass ich es geschafft hatte“, erzählt er. Gerade aber diese 13 Tage in seinem Herkunftsland hätten ihm klar gemacht, wo er wirklich zuhause sei: in Bozen.

 

2017 bekommt Familie Al Masmoudi erneut Zuwachs, diesmal ist es ein Junge. In einigen Jahren wird Mohammed der Kleinste in seiner Familie sein, seine Tochter ist bereits beinahe gleich groß wie er. „Manchmal fragt sie mich, warum die Väter ihrer Freundinnen viel größer sind“, berichtet Momi. „Dann antworte ich ihr, dass es Väter mit und ohne Bart, mit und ohne Bauch gibt; dass wir alle verschieden sind und ich nur ein klein bisschen verschiedener als andere bin. Ich bin mir bewusst, dass meine Beeinträchtigung manchmal unangenehm für meine Kinder werden könnte. Gleichzeitig möchte ich sie lehren, dass die Liebe und nicht die Körpergröße zählt.“

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