#2 Soziales Netz
Seit 2009 wurden über 600 Ausflüge und Wanderungen für psychisch kranke Patienten organisiert.

Bereits seit zehn Jahren gibt es in Südtirol die Bergtherapie, eine Zusammenarbeit des Psychiatrischen Dienstes Bozen und der Bozner Sektion des italienischen Alpenvereins CAI (Club Alpino Italiano). Über 600 Ausflüge und Wanderungen wurden seitdem für interessierte Patienten der Zentren für psychische Gesundheit des Territoriums organisiert. Das Angebot ist vielfältig, steht beiden Sprachgruppen offen und hat für jeden etwas zu bieten. Es reicht von einfachen Ausflügen über geführte Wanderungen hin zu herausfordernden Touren. Auch Klettersteige winterliche Schneeschuhwanderungen oder Rodelausflüge finden sich auf dem Programm ebenso wie sommerliche Ausflüge mit Hütten-Übernachtungen bis hin zu Trainingseinheiten in der Kletterhalle in Bozen Süd und den wöchentlichen Spaziergängen auf der Guntschnapromenade oder entlang der Talfer.

 

Dieses Projekt ist Anfang 2000 in Salurn entstanden. „El Prosac“ nennt sich die Gruppe, die in Südtirol Pionierarbeit für die physischen und psychischen Vorteile von Outdoor-Aktivitäten für psychisch kranke Patienten geleistet haben. Heute zählen rund zehn Teams aus den Zentren für Geistige Gesundheit aus ganz Südtirol dazu, die sich mit mehr als 100 Menschen mit unterschiedlichen seelischen Störungsbildern am Projekt „Montagnaterapia – Wander-ful“ beteiligen. Eine Gruppe älterer Patienten, welche aus den Psychiatrischen Rehabilitationszentren in Bozen und Salurn und den Zentren für Geistige Gesundheit oder aus den Tagesstätten des Psychiatrischen Dienstes Bozen kommen, nehmen an den Wanderungen teil, die einmal im Monat elf Mal im Jahr organisiert werden. Je öfter man gemeinsam wandern geht, umso größer ist die gegenseitige Solidarität. Und das Gefühl einer kompakten Gruppe anzugehören und die kleinen Fortschritte bei der eigenen Fitness motivieren die Teilnehmer zusätzlich. Der schwierigste Part ist – wie bei so vielem – der erste Schritt. Aber dieses Gefühl, die eigene Trägheit für einen schnellen Lauf um den Block oder einen kurzen Spaziergang überwinden zu müssen, kennt wahrscheinlich jeder. Dieses Gefühl, sich kaum zu einem gesünderen und aktiveren Lebensstil aufraffen zu können, ist bei Menschen mit psychischen Schwierigkeiten umso größer.

Das vielfältige Angebot von "Wander-ful" reicht von einfachen Spaziergängen über mittelschwere Wanderungen hin zu anspruchsvollen Touren.

„Depressive Patienten brauchen einen größeren Schubs als Patienten mit anderen Krankheitsbildern. Viele Menschen glauben, dass sie nicht in der Lage sind, eine sportliche Aktivität auszuüben“, erklärt Petra Bacher, Pflegekoordinatorin im Psychiatrischen Rehabilitationszentrum Bozen- Gries. Das allgemeine Wissen, dass körperliche Betätigung Vorteile für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen hat, die Bereitschaft einiger Mitglieder des CAI Bozen und die positiven Erfahrungen aus Salurn legten den Grundstein dafür, die Bergtherapie „Wander-ful“ auch in Bozen anzubieten. Um die anfängliche Skepsis der Patienten zu überwinden, werden vom Projektteam wöchentliche Trainings in Form eines Spaziergangs (Walking) organisiert. „Fünf Mal in der Woche treffen wir uns entweder zu einem einstündigen, schnellen Walking auf der Guntschnapromenade oder zu einem Spaziergang bei mittlerer Geschwindigkeit, der von der St.-Antons-Brücke entlang der Talfer zum Museion und zurück verläuft“, sagt Petra Bacher. Diese Initiative hat sich als nützlich erwiesen, denn jeder kann gehen oder laufen. „Das Ausmaß der sportlichen Betätigung wird auf jeden depressiven Patienten genau angepasst. In jedem Fall muss die Aktivität ein für die Person spürbares Erfolgserlebnis auslösen, aus dem klar hervorgeht, dass der Widerstand geringer wird und sich der allgemeine Gesundheitszustand verbessert“, betont Bacher. Wie bei so genannten „gesunden“ Menschen, wirkt sich Sport auch bei Menschen mit psychischen Einschränkungen sehr positiv aus. Deutlich wird dies an einem gesteigerten Selbstbewusstsein, wie das Erreichen kleiner Ziele, das Überschreiten der eigenen Grenzen und einer damit zusammenhängenden Verbesserung der sozialen Interaktionen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits im Jahr 2001 geschätzt, dass bis zum Jahr 2020 Depressionen weltweit die zweithäufigste Volkskrankheit sein werden. Vor diesem Hintergrund sind die positiven Auswirkungen der Wandertherapie umso bedeutender.

Je öfter man miteinander wandern geht, umso größer ist die gegenseitige Solidarität.

Die Bergtherapie hat einen ganzheitlichen Ansatz. Berücksichtigt werden sowohl äußere als auch interne Faktoren. Es geht darum, die Patienten wieder in Einklang mit sich selbst zu bringen. Dabei wird aktiv an einer Verbesserung der jeweiligen sportlichen Fähigkeiten gearbeitet, aber parallel dazu kommt es zu einem zwischenmenschlichen Miteinander. „Die Bewegung an der frischen Luft löst bei unseren Patienten eine positive Interaktion sowohl mit der Natur, als auch mit den Menschen aus, die sie umgeben. Das motiviert, diese Erfahrung zu wiederholen. Dadurch wiederum kommt es zu einer Veränderung der Selbstwahrnehmung“, erklärt Bacher. Die mangelnde Fähigkeit des Patienten, sich zu bewegen und mit anderen Menschen oder der Umwelt zu interagieren, habe negative Auswirkungen auf Selbstwahrnehmung, Rollenfunktion und individuelle Unabhängigkeit. Eine Person, die im Freien rodelt, klettert oder wandert, erlebt zudem diese Aktivitäten mit dem gesamten Körper: Verbesserung der Muskelfunktion sowie der Elastizität von Sehnen und Gelenken, Steigerung der Vitamin-D-Produktion, Produktion von roten Blutkörperchen, wodurch die Sauerstoffversorgung des Gewebes verbessert und die Blutgefäße erweitert werden. Dies mindert die Verkalkung der Arterien und nervöse Stressreaktionen durch die Senkung der Herz- und Atemfrequenz in Ruheposition. Außerdem kommt es zu einer Reduzierung der Hormonwerte Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol, wodurch Ermüdungserscheinungen länger hinausgeschoben werden können. Insgesamt verringert sich das Risiko einer Herzkrankheit um 40 Prozent und das Herz vergrößert sich. Auch für den gesamten Atemapparat und die allgemeine Stärkung des Immunsystems ist Sport sehr förderlich. „Noch weiß man nicht genau, was an der sportlichen Betätigung diese positive Wirkung auf die Psyche auslöst: ob es die Ablenkung von alltäglichen Problemen ist oder der Entspannungseffekt der sich erwärmenden Muskeln, der Stolz etwas erreicht zu haben oder das Freisetzen von glücklich machenden Endorphinen, die entstehen wenn der Körper sich anstrengt. Unterschiedliche Studien zeigen jedoch, dass ein bescheidenes, aber regelmäßiges Training dabei helfen kann, Stresssymptome, Ängste und Depressionen zu minimieren und parallel das Selbstbewusstsein zu steigern“, fährt Bacher fort.

„In der Gruppe erlebt man Solidarität und Zusammenhalt, man kann Grenzen ausloten und findet dennoch Trost“, erklärt Verena Segato.

Zu den positiven Nebenwirkungen für den Körper kommen auch jene der sozialen Dimension hinzu. „Die Gruppe wird ein Platz, an dem Solidarität, Zusammenhalt, das Teilen von Gefühlen und Ängsten erlebt wird, an dem man Grenzen ausloten kann und dennoch Trost findet, wenn nicht alles gelingt– zumindest nicht heute und alles auf einmal“, erklärt Verena Segato, Pflegerin im Zentrum für Geistige Gesundheit in Bozen. Segato ist, ebenso wie die beiden Pfleger Jonas Stecher und Martina Graf vom Psychiatrischen Rehabilitationszentrum in Bozen, als Begleiterin des Bergtherapieprojektes „Wasserläufer“ aktiv. Dieses richtet sich speziell an Jugendliche und junge Menschen im Alter von 18 bis 30 Jahren, die in einer der Bozner Einrichtungen betreut werden und zu psychotischen Ausbrüchen neigen. Die Gruppenmitglieder haben oftmals schwierige Lebensphasen durchlebt, etwa komplexe Familienverhältnisse, Gewalterfahrungen, Drogenkonsum. Der Unterschied des Programms der Wasserläufer im Gegensatz zu jenem des Projekts „Wander-ful“ liegt im Wesentlichen im Schwierigkeitsgrad und im Zeitaufwand der Touren. Höhenunterschiede von 700 bis 1.500 Metern sind dabei keine Seltenheit, auch technisch anspruchsvolle Routen stehen auf dem Programm. „Jedes Jahr nehmen 60 bis 80 junge Menschen das Angebot wahr. Im Moment haben wir 18 Teilnehmer und an jedem Trip nehmen im Durschnitt zwischen 7 bis 13 Leute teil“, erklärt Segato. Bei jedem Ausflug ist die Arbeit in alle bereits bestehenden medizinischen, psychologischen und sozio-pädagogischen Behandlungen eingebaut. „Hier sind unsere klinischen Fähigkeiten gefragt, aber nicht nur. Eine Schulung für alle Beteiligten soll uns unter anderem dabei helfen, die Auswirkung dieser speziellen Therapie besser zu verstehen und einzuschätzen“, betont Segato.

Natur erleben und dabei sich und seinem Geist etwas Gutes tun: Über 600 Ausflüge wurden bereits organisiert.

Für so manchen Teilnehmer blieb der Ausflug eine prägende Erinnerung, wenn man beispielsweise das erste Mal Schnee fühlen oder einen Sonnenaufgang von einer Bergspitze aus beobachten. So beschreibt Ester, Teilnehmerin eines Wanderausflugs, ihre Erfahrungen in einem Kurzbericht: „Heute bin ich recht unmotiviert gestartet, aber die Liebe zum Berg hat mir dabei geholfen, meine Einstellung und meine Gedanken zu verändern. Die Anstrengung und der Aufstieg haben mich an meine Grenzen gebracht und mir meine Schwächen aufgezeigt, aber sie haben mir auch geholfen zu verstehen, dass ich nur durch die Herausforderung und die Anstrengung Zufriedenheit und Ergebnisse erzielte. Dass ich den Cristo Pensante gesehen habe und es auf einen Berggipfel geschafft habe, zeigt mir, dass diese Ziele immer eine Eroberung sind, und der Weg, sie zu erreichen, immer wichtiger ist als das Ziel selbst“, schreibt Teilnehmerin Ester nach einer Wanderung im September 2014. Die Wandergruppen sind gemischt, Teilnehmer und Pfleger, Freunde, Verwandte, Freiwillige, aber vor allem Begleiter der Kommission „Escursionismo“ und der Alpinschule der CAI-Sektion Bozen. Manchmal werden Wanderungen auch gemeinsam mit dem Alpenverein Südtirol (AVS) organisiert und durchgeführt. „Wenn wir zu den Wanderungen aufbrechen, egal welcher Art, ist es nach einer Weile schwierig zu unterscheiden, wer gesund ist und wer ein psychisches Problem hat. Wir sind eine geschlossene Gruppe, die von der gemeinsamen Bergleidenschaft geeint wird“, sagt Cesare Cucinato vom CAI Bozen und gibt damit auch den Kommentar eines Teilnehmers wieder. Cucinato ist gemeinsam mit Willy Marchiori und Claudio Rossi für die Organisation des monatlichen Ausflugskalenders von Wander-ful zuständig. Die zehnjährige Tätigkeit wurde bisher zum Großteil mit Eigenmitteln bestritten. Hinzu kommen Spenden der Südtiroler Volksbank, des Busunternehmens Silbernagl, der Stiftung Sparkasse, des Psychologischen Dienstes Bozen und des Südtiroler Sportartikelherstellers Salewa, der Helme, Gurte und Kletterausrüstung für die Jugendlichen bereitgestellt hat. Die Teilnehmer der Bergtherapie-Wanderungen entrichten beim CAI einen reduzierten Mitgliedsbeitrag: 20 anstelle von 42 Euro. Unternehmer Heiner Oberrauch, Eigentümer des Salewa Cube in Bozen Süd, stellt die Kletterhalle kostenlos zur Verfügung. Ebendort sowie in der Kletterhalle in Eppan, werden auch Events für blinde Kletterer organisiert. Die Initiative „ConTATTO verticale“ wurde in Südtirol wesentlich von Ulla Walder vom AVS sowie vom ehemaligen Spitzenkletterer Pietro dal Pra vorangetrieben.

Mehr Selbstvertrauen führt zu besseren sportlichen Ergebnissen – und das fördert schließlich die Sicherheit und die Persönlichkeit.

Aber auch in Meran gibt es ähnliche Initiativen. In der Rockarena, die vom AVS geführt wird, organisiert Andi Sanin bereits seit zehn Jahren Kletterkurse für Jugendliche mit Beeinträchtigungen. Die Idee dazu hatte Andi Sanin, der im Sozialgymnasium Sport unterrichtet und lange als Trainer der Meraner Weltmeisterin im Eisklettern Angelika Rainer aktiv war. Das war vor drei Jahren, als er gemeinsam mit seiner Kollegin Helene Mathà seinen Schülern Klettern außerhalb der Schulzeiten anbot. Heute sind es an die zehn Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren, die etwa einmal im Monat an den Kletterstunden in der Rockarena in Meran teilnehmen. Die Ergebnisse sind verblüffend. „Bei den ersten Trainingsstunden konnte man noch große Angst bei den Kids verspüren. Aber mit jedem Mal wurde das Vertrauen in den eigenen Körper größer und damit wuchs auch das Selbstvertrauen. Mehr Selbstvertrauen führt zu besseren sportlichen Ergebnissen – und das fördert schließlich die Sicherheit und die Persönlichkeit. Die Auswirkungen der sportlichen Betätigung auf die Schüler, besonders auf jene mit Beeinträchtigungen, waren so positiv, dass wir Lehrpersonen uns noch mehr dafür einsetzen, die Jugendlichen am größtmöglichen Teil der Turn- und Sportstunden teilhaben zu lassen“, schließt Sanin.

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