Über den Sport zu mehr Autonomie
Dies ist die Geschichte der Yankees Bozen: einer Fußballmannschaft, bei der Sport ein wichtiges Element auf dem Weg zu mehr Selbstständigkeit ist.
Wenn Lorenzo nach einem erfolgreichen Torschuss jubelt, ist dies unverkennbar ein Cristiano-Ronaldo-Jubel: Der junge Mann stürmt los, springt im Halbkreis um sich selbst, stoppt und schließt den Jubel mit ausgestreckten Armen ab. „Mein Herz schlägt für Juve“, erzählt er. Christian hingegen, der Kapitän der Yankees, ist überzeugter Milanista. Doch bei den Yankees hat jeder seinen Platz. In der zweisprachigen Fußballmannschaft von Virtus Bozen (ehemals FC Bozen) spielen Spieler mit Beeinträchtigung. Einige sind Autisten, andere haben das Downsyndrom, einige hingegen körperliche Einschränkungen. „Bei uns ist jeder willkommen! In den vergangenen Jahren haben bei uns rund 30 Kinder und Jugendliche gespielt und nur wenige mussten diese Aktivität nach kurzer Zeit wieder aufgeben“, berichtet Trainer Alessandro Varner. Die Mannschaft nimmt jährlich an mehreren Turnieren teil, doch das Konkurrenzdenken steht dabei selten im Vordergrund. „Uns geht es vielmehr darum zu wachsen, und dies gelingt durch Spaß, Teamgeist und natürlich durch die sportliche Praxis. Es ist schön zu beobachten, dass die Jungs und Mädels durch unser Team ein Stück mehr an Autonomie erhalten“, sagt Varner.
Die Yankees trainieren im Winter einmal wöchentlich in der Turnhalle der Battisti-Oberschule in Bozen, ab Frühjahr geht’s zweimal in der Woche an die Talfer. In entspannter Atmosphäre kommen die Kinder zum Training, der Umgangston zwischen Trainer und Spielern ist herzlich. Dies gilt auch für die Beziehung zu den Eltern, die dem Trainerteam komplett vertrauen. „Der Trainer weiß genau, wie man alle in die Gruppe integriert. Doch wenn’s sein muss, ist auch Respekt da. Außerdem zeigt er den Spielern, wie man sich Schritt für Schritt auf dem Fußballfeld verbessert“, erzählt ein Spielervater. Abwechselnd wird die Mannschaft von einer Gruppe von Eltern und Geschwistern unterstützt: jemand steht im Tor, ein anderer hilft den Spielern, die im Rollstuhl sitzen. „Matteo ist einer unserer angriffsstärksten Yankees“, erklärt eine Mutter, nachdem der Junge, angeschoben vom Trainer, aufs Spielfeld kommt. Und wenn man ihn in Aktion sieht, kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, dass Matteo und sein unbändiger Enthusiasmus seinen Rollstuhl beinahe übers Feld fliegen lassen. Wenn ein Tor für die Yankees fällt, strahlt Matteo übers ganze Gesicht – egal wer das Tor schließlich geschossen hat.
Nach dem Aufwärmen wird es ernst: Die Spieler geben alles, jeder will sein Bestes geben, um zu gewinnen. Wenn jemand müde wird, ruht er sich außerhalb des Spielfelds aus. Man lacht und scherzt. Das Spiel endet mit einem magischen 6:6. Bevor er ein „Yankee“ wurde, hat Trainer Varner für 12 Jahre Jugendgruppen wie jene des FC Südtirol, des FC Bozen oder von Virtus Bozen trainiert. „Wieso ich die Mannschaft gewechselt habe? Sagen wir es so: Wer Jugendgruppen trainiert, macht dies aus Leidenschaft, nicht des Geldes wegen“, erzählt Alessandro Varner. „In den ‚normalen‘ Mannschaften ist die Beziehung der Trainer zu den Eltern der Spieler nicht immer ganz einfach. Der Gedanke, mit einer Mannschaft wie den Yankees zu arbeiten, hat mich eine ganze Weile beschäftigt. Auch der damalige Bozen-Präsident Franco Murano und der leider verstorbene ‚Mister‘ Roberto Bortoletto waren von dem Projekt begeistert. Zu einem gewissen Zeitpunkt war mir klar, dass ich meine Zeit diesem Projekt widmen möchte. Als wir gestartet sind, hat sich zunächst nur ein Spieler gemeldet – nämlich Christian Veronese, unser Kapitän. Nach einem Treffen mit den Verantwortlichen des Vereins ‚Il Sorriso‘ kamen dann immer mehr Kinder und Jugendliche, bis wir schließlich eine komplette Mannschaft beisammen hatten.“ Der Trainer weiß, dass er etwas Tolles und Besonders macht. Jedes Mal, wenn er von einem seiner „Wölfe“ spricht, hellt sich sein Gesicht auf. „Wir sind ein richtiges Team geworden“, erklärt Varner, „und haben eine tolle Verbindung, auch zu den Eltern. Wir organisieren Reisen zu Serie-A-Spielen, ein Sommercamp am Meer, bei dem jeden Tag trainiert wird, gemeinsame Abendessen. Ein Teil unserer Mannschaft schaut sich regelmäßig die Eishockeyspiele des HC Bozen an. Viele von meinen Spielern sind in anderen Sportarten aktiv – und das meist mit Erfolg! Die Familien und unser Verein sammeln gemeinsam Spenden über einen Kalender und unseren Stand beim Altstadtfest, wo unsere Jungs und Mädels einen Abend lang kellnern. Außerdem beteiligen sich einige an einem Projekt mit einer Studentin der Uni Bozen.“
Alessandro Varner ist beeindruckt von der Fülle an Aktivitäten, die von der Gruppe weitergebracht werden: „Die Eltern leisten eine tolle Arbeit und opfern sehr viel Freizeit, dies ist nicht selbstverständlich.“ Entlohnt wird der Trainer vor allem mit Erfahrungen: „Wenn man sieht, wie sich die Kinder im Laufe der Jahre immer weiter verbessern, ist dies etwas Besonderes. Und ich meine damit nicht die sportlichen Leistungen, die sich zwar auch steigern, sondern vielmehr dass sich ihre Lebensqualität verbessert. Manche von ihnen kommen alleine zum Training, nehmen an Tanzkursen teil …. Die Jugendlichen spielen Fußball, haben dabei Spaß, streiten auch mal, verbessern sich, entwickeln dabei aber keinen krampfhaften Ehrgeiz. Der Spaß steht an erster Stelle. Wenn neue Spieler dazukommen, braucht es zwar manchmal eine Weile, bis sie vollkommen integriert sind – aber jeder gibt sein Bestes dazu, um diese Ziel zu erreichen.“
Die Förderung der Eigenständigkeit ist eine Art Umkehr vom alten Konzept der „geschützten Werkstätte“. „Die Eltern wollen ihre Kinder darin unterstützen, für sie nützliche Tätigkeiten auszuüben, die aber auch der Gemeinschaft etwas bringen. Allerdings nicht in einem geschützten Umfeld“, sagt Trainer Varner. Nachdem mehrere der Spieler die Hotelfachschule besuchen, träumt die Gruppe davon, früher oder später selbst eine Bar zu führen. Man müsse jedoch erst schauen, ob dies in naher Zukunft realisierbar sei. „Bis dahin“, ergänzt Michela Bosin, Mutter von Manuel, „bemühen wir uns darum, einen Arbeitsplatz für unsere Kinder zu finden.“
Der Sport und die damit verbundenen motorischen Fähigkeiten, die durch das Training verbessert werden, sind somit eine wichtige Stütze auf dem Weg hin zu mehr Autonomie. Und die Jugendlichen geben alles dafür – ganz genauso wie jene, die keine Behinderung haben. Sofia, eine ausgezeichnete Mittelfeldspielerin, bestreitet als Turnierreiterin „normale“ Wettkämpfe. Samuel, Yankee-Stürmer, ist Ski-Italienmeister in seiner Kategorie. Und er spielt Schlagzeug. Das ist aber bei Weitem noch nicht alles: Die Jugendlichen absolvieren Kochkurze, lernen wie man Tische richtig bedient und vieles mehr.
„Der eigentliche Punkt ist, dass diese Jugendlichen – und ich beziehe mich vor allem auf die Kinder mit Downsyndrom, die ich selbst schon länger kenne – zahlreiche Fähigkeiten haben, von denen bis zunächst niemand dachte, dass sie sie hätten“, erklärt Simone Pantano, Vater von Samuel und einer der „Motoren“ des Teams und des Vereins. „Es liegt an uns, diese Fähigkeiten ans Tageslicht zu befördern. Wir müssen dafür unseren natürlichen Beschützerinstinkt ablegen, der für unsere Kinder manchmal bedrückend sein kann“, sagt Pantano. Samuel ist so aktiv wie kaum ein anderes, „normales“ Kind. „Meine Leidenschaft galt schon immer zwei Bereichen: der Musik und dem Sport. Beides möchte ich meinem Sohn weitergeben. In den 80er und 90er Jahren waren viele Down-Kinder übergewichtig – heute hingegen ist dies anders. Wir haben die Möglichkeit, von klein an geeignete Therapien anzuwenden, so manches Herzproblem lässt sich heute auf operativem Weg lösen. Die Möglichkeit, Sport auszuüben, ist in den meisten Fällen vorhanden. Schließlich fördert eine gute körperliche Verfassung auch die kognitive Entwicklung. Der Sport ist eine der Säulen auf dem Weg zu mehr Autonomie“, ist Simone Pantano überzeugt.
Der Weg zu einem Mehr an Selbstständigkeit wird von Monat zu Monat umfangreicher. „Unsere Jugendlichen stecken voll in der Pubertät und haben daher natürlich Bedürfnisse, auch sexuelle, wie Gleichaltrige. Sie wollen sich selbstständig bewegen, natürlich immer mit einer gewissen Aufsicht, aber alleine. Beim Sommercamp genügte es zunächst, irgendwo ans Meer zu fahren, heute wollen sie lieber nach Rimini, um dort in eine Disco zu gehen. In der Fußballmannschaft selbst spielen drei Mädchen und mittlerweile gibt es drei Pärchen“, erzählt Trainer Varner. Auch die Familien selbst agieren sehr selbstständig: „Wir machen alles in Eigenregie, wir wollen keine Bittsteller sein. Wenn wir Spenden erhalten, kommen diese unmittelbar unseren Kindern zugute. Was machen wir mit 5000 Euro? Wir organisieren etwas, zum Beispiel einen Tanzkurs …“ Jeder müsse sich einbringen: „Manche Eltern haben natürlich auch Angst, wenn es um etwas Neues, wie zum Beispiel das Radfahren, geht. Doch genau das Fahrrad ist auch immer ein Symbol der Selbstständigkeit – in einer Radstadt wie Bozen umso mehr. Manchmal, im Sommer, fahre ich gemeinsam mit einigen Jugendlichen raus ins Lido nach Kaltern … ganz ohne Probleme. Einige unserer Kinder fahren mit dem Fahrrad selbständig zum Training von der Reschenbrücke zur Talfer – natürlich schauen wir Erwachsenen, dass sie gut starten und auch gut ankommen“, erzählt Vater Pantano. Man müsse die Latte ständig, wenn auch nur um einige Millimeter, erhöhen, zumindest einen Versuch müsse dies Wert sein. „Jeder kleine Fortschritt steigert das Selbstvertrauen der Kinder. Dies ist fundamental für ihre Entwicklung und ihr Heranwachsen.“ Auch der Präsident von Virtus Bozen, Robert Oberrauch, ist von den Yankees überzeugt. „Wir sind froh und stolz, dass die Yankees Teil von Virtus Bozen sind. Diese Jugendlichen sind außergewöhnlichen Sportler, haben eine einzigartige Spielfreude und können mit ihrer Leidenschaft und ihrem Einsatz ein Vorbild für uns alle sein“, fasst Oberrauch zusammen.
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