Musterbeispiel für vereinte Vielfalt
Die Autonomie sei nie perfekt, aber doch die beste aller möglichen Lösungen für unser Land, sagt Landeshauptmann Arno Kompatscher im Gespräch mit LP. Und er erklärt, warum alle Südtirolerinnen und Südtiroler die Autonomie im Herzen tragen sollten.
Am 5. September ist Tag der Autonomie … Wenn Sie drei Worte dafür zur Verfügung haben: Was sind die wichtigsten Säulen?
Minderheitenschutz, Selbstverwaltung, Verantwortung!
Sie haben fünf Jahre als Landeshauptmann und einige tausend Begegnungen hinter sich … Aufgrund dieser Erfahrung: Wie stehen die Bürgerinnen und Bürger heute zur Autonomie – und unterscheidet sich die Sichtweise der Sprachgruppen?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger überzeugt ist von den Vorteilen und Chancen, die sich aus der Autonomie für unser Land ergeben. Der Unterschied liegt höchstens in den Feinheiten: Vielleicht sehen die italienischsprachigen Landsleute eher die Vorteile der autonomen Verwaltung, sprich die Möglichkeit, unsere verschiedenen Zuständigkeitsbereiche besser zu verwalten als es auf anderer Ebene geschehen würde. Den Mitbürgerinnen und Mitbürgern deutscher und ladinischer Sprache ist naturgemäß vor allem der Schutz der Minderheitensprache und Kultur wichtig.
Wie gesagt: Es sind nur minimal unterschiedliche Akzente wahrzunehmen. Insgesamt scheint mir, schätzen und respektieren fast alle die verschiedenen Aspekte der Autonomie und sehen sie als Grundlage für den Schutz und die Entwicklung unseres Landes. Manchmal habe ich aber den Eindruck, dass einige italienische Bürgerinnen und Bürger mehr hinter dieser Autonomie stehen als so manche aus der deutschen Sprachgruppe. Wir wissen aber auch, dass unter diesen auch jene sind, die in der Autonomie lediglich eine Übergangslösung sehen und glauben, dass das eigentliche Ziel ein anderes sein sollte.
Früher war die Autonomie hart erkämpft, für die Jugendlichen ist sie selbstverständlich, der Name Silvius Magnago sagt ihnen nur wenig. Spüren Sie, was die Autonomie wert ist?
Unserer Autonomie geht es ähnlich wie der Europäischen Union: Dort wurden Frieden, Sicherheit und Wohlstand hart erkämpft. Heute gilt dies als ebenso selbstverständlich wie bei uns der Schutz von Sprache und Kultur sowie die Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnis. Der Jugend ist das oft nicht unmittelbar bewusst. Wenn man sie aber genauer darauf anspricht, werden die Antworten doch konkreter.
„Wenn uns die Autonomie eint, haben darin auch unsere unterschiedlichen Lebens- und Sichtweisen Platz.“
Warum ist es wichtig, den Wert der Autonomie zu vermitteln?
Das Bewusstsein für diese Sonderstellung ist von fundamentaler Bedeutung. Die Autonomie kann nur weiter bestehen, wenn sie nicht nur der Politik, sondern der gesamten Gesellschaft bewusst ist.
Mein Traum wäre, dass sich eine Art Autonomie-Patriotismus entwickelt. Der Philosoph Jürgen Habermas stellte in Deutschland dem nationalen „Patriotismus“ mit seinen vielen schlimmen Auswirkungen den „Verfassungs-Patriotismus“ gegenüber. Genauso könnte bei uns der Autonomie-Patriotismus die Basis sein.
Diese Autonomie ist etwas Besonderes und Wertvolles! Wenn uns diese Vorstellung eint, dann ist auch Platz für all die unterschiedlichen Sichtweisen in unserem Land.
Welche Rolle spielt hierbei die Schule?
Es scheint mir wichtig, dass in einem Schulfach wie Bürgerkunde – wo erklärt wird, wie ein Staat mit all den Bürgerrechten und -pflichten funktioniert – auch die Geschichte unserer Autonomie gelehrt wird. Es sollten ihre Vor- und Nachteile aufgezeigt werden, auch im Vergleich unseres Landes mit anderen Ländern, in denen verschiedene Sprachgruppen zusammenleben. Das würde ein stärkeres Autonomie-Bewusstsein unterstützen.
Dank der Arbeit in den paritätischen Kommissionen und auch aufgrund europäischer Regelungen konnte Südtirol seine Autonomie in Bereichen ausbauen, die vorher fast schon als Tabu gegolten hatten. Man denke nur an die Bereiche Handel oder Stromkonzessionen oder gar an den Sicherungspakt, der Südtirol auch auf Verfassungsebene eine starke Finanzautonomie garantiert. Welche dieser Errungenschaften stufen Sie als wichtigste ein?
Ganz bestimmt war der Sicherungspakt ein ganz großer Schritt: Er hat unsere eigenständige Finanzgebarung gesichert und wirkt sich somit unmittelbar auf den Haushalt aus. Bereits Landeshauptmann Silvius Magnago hatte seinerzeit gesagt: „Die Autonomie zählt nichts, wenn es nicht auch eine finanzielle Autonomie ist.“
Aber mit dem Sicherungspakt ist ein weiterer Aspekt verbunden, nämlich der Notenwechsel zwischen Italien und Österreich. Er ist noch wichtiger, denn er hebt das Ganze auf eine höhere Ebene: Tatsächlich erkennt Italien mit diesem Notenwechsel erstmals nach der sogenannten Streitbeilegung aus dem Jahr 1992 erneut die Schutzfunktion Österreichs an. Damit hat das Außenministerium ein Tabu gebrochen, denn in der Vergangenheit hatte es eine Vorgehensweise wie diese stets als nicht akzeptablen Verlust seiner Souveränität betrachtet.
Nach der Streitbeilegung schien es, als sehe Italien die Autonomie ausschließlich als inneritalienische Angelegenheit. Der Notenwechsel dagegen geschah im Geiste einer gemeinsam geteilten Verantwortung gegenüber unserer Autonomie, die – im Unterschied zu allen anderen in Italien – auf einer bilateralen Beziehung zwischen zwei Staaten fußt. Das war mit Sicherheit eine Errungenschaft mit historischer Bedeutung.
Italiener außerhalb unserer Region wissen oft wenig über unseren Minderheitenschutz und die Autonomie. Wie erklärt man ihnen, dass die Autonomie notwendig ist?
Meine Erfahrung ist, dass Italiener nicht so sehr den Minderheitenschutz anzweifeln. Man muss ihnen nur erklären, dass hier Angehörige einer österreichischen Minderheit leben und ein Recht auf ihre Sprache und Kultur haben. Dann haben sie auch Verständnis dafür.
Schwieriger ist der wirtschaftliche Aspekt: Viele verbinden unsere gut funktionierende Autonomie mit dem Vorurteil, dass das Geld dafür vom Staat kommen würde, und somit auf Kosten der italienischen Steuerzahler gehe. Aber wir sind – nach der Lombardei und Venetien – nachweislich der drittgrößte Pro-Kopf-Nettozahler Italiens. Unsere Autonomie kostet den Staat nichts. Wir leisten sogar einen Beitrag. Gegen diese Vorurteile müssen wir ankämpfen.
Autonomie ist keine Erfolgsgarantie. Auch in den vergangenen Jahren wurden auf verschiedenen Ebenen immer wieder Staats- vor Landesinteressen gestellt – z. B. bei Umwelt und Jagd … Verliert die Autonomie an Geltung?
Wir haben die Universität Innsbruck bewusst mit einer Studie über den Gesundheitszustand der Autonomie beauftragt. Das Ergebnis: Die Autonomie wurde seit 1992 (Streitbeilegung Österreich-Italien, Anm. d. Red.) in vielen Bereichen ausgedehnt. In Summe steht sie besser da. In einigen Bereichen wurde sie geschmälert – zum einen in Italien durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs in Folge der Verfassungsreform 2001, zum anderen – und das wissen viele nicht – auch durch die Europäische Union, die inzwischen viele Rechtsbereiche regelt.
Beide Beispiele zeigen uns eines: Immer wieder ändert sich der übergeordnete – europäische oder italienische – Rechtsrahmen. Also müssen wir immer wieder nachbessern. Die Autonomie ist eine dynamische. Zu glauben, sie nie mehr ändern und weiterentwickeln zu müssen, würde ihren Tod bedeuten!
Im sogenannten Autonomiekonvent haben sich Südtiroler Bürgerinnen und Bürger genau darüber den Kopf zerbrochen, wie es mit der Autonomie weiter gehen kann. Kritiker sagen: Alles nur für die Schublade …
Was überhaupt nicht stimmt. Es hat zwei Schlussdokumente mit teils unterschiedlichen Positionen gegeben. Aber wenn man sie übereinanderlegt und schaut, in welchen Punkten sie übereinstimmen: Dann kommt genau die Südtirol-Autonomie heraus!
Dazu gibt es auch ein paar neue Forderungen. Bei einigen gab es Dissens. Da bedarf es noch weiterer Diskussion. Bei jenen mit Konsens empfinden wir es als unseren natürlichen Regierungsauftrag, schon jetzt daran zu arbeiten. Allerdings betrifft das teils die Verfassungsebene. Dort sind die Zeiten für Änderungen biblisch. Also kann die Umsetzung Jahre dauern. Deshalb sind die Ergebnisse des Konvents aber noch lange nicht in der Schublade.
Zurück zu den Finanzen: Rom denkt wiederholt über eine Wende in der Finanzpolitik nach. Fürchten Sie die Folgen?
Wir müssen erst sehen, ob diese Wende kommt und wie sie dann aussieht. Aber wenn der Staat die Steuern senken sollte, würde das auch unsere Bürgerinnen und Bürger entlasten, weil sie weniger Steuern zahlen müssten.
Gleichzeitig muss man bedenken, dass wir mit den aktuellen Steuereinnahmen unser Südtiroler System finanzieren. Gäbe es also eine drastische Steuersenkung, könnten wir zwar in irgend einer Form damit zurecht kommen. Aber gerade um kein Risiko einzugehen, arbeiten wir mit den Ministern an einer Neutralitätsklausel. Ziel ist es, ein Monitoring einzuführen, das die Auswirkungen der staatlichen Fiskalpolitik auf unsere Autonomie laufend überprüft. Sollte sie sich negativ auswirken, würde ein Mechanismus in Kraft treten, der unseren Beitrag zum staatlichen Haushalt reduzieren würde.
Wenn die politischen Voraussetzungen gegeben sind: Welche Schritte sind die wichtigsten, um die Autonomie weiter auszubauen?
Eines der wichtigsten Ziele ist sicher die Zuständigkeit im Bereich Umwelt und Ökosystem sowie die bereits genannte Unabhängigkeit von den staatlichen Finanzmaßnahmen. Darüber hinaus ist auch die digitale Autonomie ein Ziel. Denn die Autonomie muss und wird sich immer weiterentwickeln. Wir können nicht Silvius Magnago dafür verantwortlich machen, dass er 1972 nicht erkannt hat, die Zuständigkeit für die Digitalisierung fordern zu müssen. Heute aber müssen wir ein Mindestmaß an Autonomie in der Entwicklung neuer Informatiksysteme und vor allem unserer Datenbanken vorsehen.
Schließlich wäre es wichtig, endlich auch das schier endlose Thema der Ortsnamengebung zu lösen: Einen Kompromiss zu finden, der das Heimatgefühl aller Sprachgruppen schützt, das faschistische Unrecht überwindet und uns hilft, das Thema ein für alle Mal zu begraben. Das würde unserer Gemeinschaft guttun. Klar: Die Extremisten beider Seiten werden wir nie zufriedenstellen können, aber eine Lösung müssen wir finden.
Kommen wir zur Region: Sehen Sie in ihr noch eine Zukunft?
Meine persönliche Meinung ist: Die gesetzgeberische Macht auf regionaler Ebene ist in unserer Zeit überholt. Die Region übt nur noch in ganz wenigen Bereichen legislative Macht aus. Und auch dort sagt man eigentlich nur mehr: In Südtirol setzen wir die entsprechenden Regeln auf diese Weise um, im Trentino auf die andere … Also ist es besser, alles auf Landes-Ebene zu regeln, und wir haben effektiv weniger Probleme.
Die Zusammenarbeit auf regionaler Ebene macht hingegen sehr wohl Sinn, wenn es um die Verteidigung der Autonomie geht oder wenn es darauf ankommt, eine kritische Masse zu erreichen oder uns zumindest auf höherer Ebene als jener der Provinzen zu koordinieren: Mobilität und Verkehr zum Beispiel, oder die Gesundheit, die Für- und Vorsorge … Bei diesen gemeinsamen Anliegen würde es aber meist genügen, wenn die Verwaltungen zusammenarbeiten, während sich der Regionalrat auf drei bis vier Sitzungen pro Jahr beschränken könnte. Das wäre die logische Entwicklung der Beziehung zwischen den beiden autonomen Provinzen Bozen und Trient. Die große Wende kam übrigens mit der Verfassungsreform von 2001: Diese hat dazu geführt, dass sich der Regionalrat schon heute aus den zwei Landtagen zusammensetzt.
Ein Richtungswechsel würde diesem Gremium daher viel von seiner verlorenen Glaubwürdigkeit zurückgeben. Die Trentiner fordern aber, dass das Autonomiestatut auf alle Fälle ein einziges Regelwerk für beide Provinzen bleibt, und dem kann ich durchaus zustimmen.
Einige Bewegungen und Oppositionsparteien fordern die Selbstbestimmung und das Los von Italien … Würden Sie im Falle einer Gefahr für die Autonomie dieser Linie folgen?
Hier gibt es drei Überlegungen: Zunächst das Völkerrecht. Praktisch alle Völkerrechtler der Welt interpretieren das Recht der Völker auf Selbstbestimmung nicht als das Recht einseitig eine Sezession durchzuführen.
Also gäbe es den Verhandlungsweg. Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass Italien einfach sagt: „Ja klar: Ihr könnt gerne einen eigenen Staat gründen oder euch mit Österreich oder auch der Schweiz zusammenschließen!“
„Wenn wir wollen, dass sich Italien an die Verträge hält, müssen auch wir das tun.“
Das führt zum dritten Punkt: Zum Schutz unserer Autonomie pochen wir auf ein ehernes Prinzip, das bereits die alten Römer kannten: „Pacta sunt servanda – Verträge sind einzuhalten!“ Südtirols Autonomie ist ein solches großes Vertragswerk. Und es sieht eben vor: Die Grenze wird nicht verschoben! Dafür gibt es eine weitreichende Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnis, den Schutz der Sprache und Kultur usw. Diesen Pakt einseitig aufzulösen, wären wir nur dann legitimiert, wenn ihn auch Italien in einem völkerrechtlich relevanten Maß verletzen würde.
Daher sehe ich unsere wirkliche Perspektive in der EU. Dank ihr müssen wir Grenzen nicht mehr verschieben, sondern können sie überwinden. Das wäre meine Wunschvorstellung: Künftig Teil einer Europäischen Union zu sein, in der das Nationalstaatliche an Bedeutung verliert und das Europäische immer mehr in den Vordergrund rückt, auch im Sinne eines Europas der Regionen! Auch das geschieht nicht von heute auf morgen. Wir haben aber bereits wichtige Etappen dieses Weges, der in die Zukunft anstatt in die Vergangenheit führt, zurückgelegt: Zum Beispiel die Schengen-Regelung für den Wegfall der Grenzkontrollen und die Einführung des Euro.
Und in welche Richtung kann und soll sich die Europaregion entwickeln?
Wir können uns als Pilotprojekt innerhalb der Europäischen Union betrachten. Wir versuchen hier, die Idee eines Europas der Regionen zu leben, in dem das Prinzip der Subsidiarität – also der gestärkten Eigenverantwortung auf allen Ebenen – zur Geltung kommt. Die Euregio ist also eine große Chance.
Dennoch schieben wir uns immer wieder Riegel vor die Tür. Die Hindernisse sind hier ganz oft eben nicht die staatlichen oder europäischen Gesetze … es sind ganz einfach wir selbst, wir alle, die wir unsere Kirchtürme in unseren Köpfen errichtet haben. Man hört sagen: „Das funktioniert bei uns in Tirol bestens … wieso also sollten wir es ändern, nur um es mit euch gemeinsam zu machen?“ Mir fällt zum Beispiel ein einziges, gemeinsames Transport-Ticket ein. Ein solches einzuführen wäre ein deutliches Signal der Europaregion. Wir machen es einfach nur deshalb nicht, weil wir uns nicht über die verschiedenen Tarifsysteme einigen können. Und das ist wirklich ein Jammer.
Sie sprechen gerne von einem „kleinen Europa in Europa“. Kann Südtirol ein Modell sein für Gebiete, in denen unterschiedliche Gruppen friedlich zusammenleben?
Statt von „Modell“ spreche ich lieber von „Beispiel“. Unsere Lösung kann sicher nicht Eins zu Eins auf andere Situationen übertragen werden. Aber viele Elemente aus unserem System können Schlüssel dafür sein, ethnische Konflikte und Grenzkonflikte zu lösen. Mehrfach schon haben höchstrangige Politiker Südtirol als Beispiel für Krisenregionen vorgeschlagen – auch US-Präsident Barack Obama bei der Krim- und Ukraine-Krise. Die Anregung dazu hatte ich Ministerpräsident Matteo Renzi einen Tag vor dessen Treffen mit Obama gegeben.
Und was das „kleine Europa“ betrifft: Die EU wirbt mit dem Slogan „United in diversity – Vereint in der Vielfalt“. Das ist nicht der Schmelztiegel, in dem die Kulturen zu einem Einheitsbrei verschwimmen. Es gibt weiterhin Unterschiede: das Bewusstsein der eigenen Wurzeln, Tradition und Kultur.
Genau das leben wir in Südtirol seit vielen Jahren – nicht perfekt, aber mit relativem Erfolg: Vielfalt bleibt erhalten. Aber gleichzeitig ist man vereint in dieser Vielfalt und schöpft einen Mehrwert daraus. Das sind wir: ein kleines Europa in Europa.
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