#3 Autonomie
Vor neun Monaten hat Sturm Vaia in Südtirol 5900 Hektar Waldflächen zerstört. Die Hälfte davon ist bereits aufgearbeitet.

Wenn Mario Broll an die Ereignisse am Morgen des 30. Oktober 2018 zurückdenkt, wird er fast philosophisch: „Der Wald ist wie ein Großvater: Er hört dir immer zu, hat viel Geduld, er ist immer da“, sagt der Forstdirektor des Landes und denkt laut weiter: „Der Wald beschützt vor Muren, vor Lawinen … Wenn zu viel Wasser von oben kommt, reagiert der Wald wie ein Schwamm.“ Um so schlimmer sei es, wenn von einem auf den anderen Tag der Wald nicht mehr da ist: „Da kommt es einem vor, als wäre ein Familienmitglied gegangen. Wie bei nahestehenden Menschen versteht man oft erst was einem fehlt, wenn er nicht mehr da ist!“ Das waren Mario Brolls Eindrücke, als er am Morgen des 30. Oktobers „seine“ Wälder sah.

 

Ein unglaublicher Sturm

In den vorangegangenen zwei Tagen hatte ein unglaublicher Sturm große Teile Südtirols überquert, teilweise mit Geschwindigkeiten bis zu 150 Kilometern pro Stunde. „Vaia“ geht als jenes Sturmtief in die Geschichte ein, das bisher die größte gemessene Zerstörungskraft für Südtirols und Italiens Wälder hatte. Nach der Überwindung des anfänglichen Schocks, sind nun, nach neun Monaten intensiver Arbeit, effizienten Maschineneinsatzes und dank flexibler Landesgesetzgebung die Hälfte der umgefallenen Bäume abtransportiert. Parallel dazu wurde bereits mit der Aufforstung begonnen. „Dank der Artenvielfalt in unserem Land können wir zwar auf die Natur vertrauen, doch auch wir sind gefordert, unseren Part zu übernehmen“, sagt Broll.

 

Die gesamtstaatlichen Waldschäden durch Vaia betragen rund 923 Millionen Euro. Die am schwersten betroffene Fläche kommt zusammen auf 42.500 Hektar mit 8,6 Millionen Kubikmeter Holz. Eine ähnlich große Fläche wurde zumindest teilweise beschädigt. Schätzungen gehen daher davon aus, dass insgesamt über 13 Millionen Kubikmeter Holz vom Windwurf betroffen sind. Die Gebiete mit den größten Schäden befinden sich im Trentino (über 18.000 Hektar) und Venetien (über 12.000 Hektar). In Südtirol sind insgesamt 5900 Hektar vom Windwurf betroffen, dieselbe Schadfläche verzeichnen auch die Lombardei und Friaul.

Hand in Hand gearbeitet

Die Schadfläche in Südtirol macht 1,7 Prozent der gesamten Waldfläche des Landes aus. 1,5 Millionen Kubikmeter Holz, vor allem Rotfichte, wurden vom Wind geknickt. Über 50 Prozent der geschätzten Gesamtschadholzmasse sind einige Monate nach den großen Waldschäden von Ende Oktober aufgearbeitet. Dies war möglich, da alle Ebenen Hand in Hand arbeiten. Forstlandesrat Arnold Schuler hatte bereits im November 2018 vorangetrieben, dass schnellstmöglich alle Forstwege wieder frei zugänglich sind und sich auch mit den 2100 Waldbesitzern (63 Prozent des beschädigten Waldes befinden sich in Privatbesitz, der Rest ist öffentlich) beratschlagt. Vom Windwurf betroffen waren nämlich primär Fichtenwälder, denen die Universität Wien eine ideale Ausgewogenheit mit ihrer Umgebung wissenschaftlich bescheinigt hat.

 

Mario Broll blickt auf den Abend des 29. Oktober zurück: „Ich bin Mitglied des Zivilschutzkomitees. Daher war ich an diesem Abend am Sitz der Landesagentur für Bevölkerungsschutz in der Bozner Drususstraße. Am Nachmittag hatte nämlich Agenturdirektor Rudolf Pollinger über seine Mitarbeiter vor Ort von heftigen Sturmböen erfahren. Wir haben vereinbart, uns am Folgetag erneut zu beraten. Den Sturm selbst hat Broll zu Hause im Fleimstal miterlebt: „Ich könnte mich nicht erinnern, jemals so heftige Sturmböen erlebt zu haben.“

"Dieser Moment, wo man realisiert, welch Unheil der Wind der vorhergehenden Nacht angerichtet hatte, ist in prägender Erinnerung geblieben." Mario Broll

„Ein komplett neuartiges Phänomen“

Darum ist er am nächsten Tag sehr früh, es muss gegen 5 Uhr gewesen sein, gestartet, um an der 8-Uhr-Sitzung in Bozen teilzunehmen. „Uns war allen klar“, berichtet der Forstdirektor, „dass dies ein komplett neuartiges Phänomen war. Zu Tagesbeginn haben wir vor allem aus dem Raum Pustertal und Gadertal Schadmeldungen erhalten.“ Am tragischsten sei natürlich die Nachricht vom Tod des 52-jährigen Feuerwehrmannes Giovanni Costa aus Campill gewesen: Er hatte bei Aufräumarbeiten in der Nacht sein Leben verloren.

 

Broll selbst ist dann am 30. Oktober mit einem Zivilschutzhelikopter zu einem Ekrundungsflug Richtung Unterland und Gröden aufgebrochen. „Das Gebiet rund um den Latemar, dort wo ich in der Forstschule meine Ausbildung genossen habe, wo ich beruflich gesehen aufgewachsen bin, wo ich quasi jeden einzelnen Baum kannte, war nicht mehr wiederzuerkennen“, schildert Broll. Dieser Moment, wo man realisiert, welch Unheil der Wind der vorhergehenden Nacht angerichtet hatte, sei in prägender Erinnerung geblieben.

Ausmaß des Windwurfs durch Sturmtief Vaia

 

Wichtiger noch als die Erholungs- ist die Schutzfunktion

„Der Erholungsfaktor des Waldes ist unbestritten“, sagt Broll. Doch noch wichtiger als dieser ist seine Schutzfunktion. „Der Wald schützt vor Muren, Lawinen, er schützt davor, dass Erdreich abgetragen wird. Während dies vielfach nicht bewusst war, als der Wald noch stand, ist diese Situation nun vielerorts akut“, erklärt der Forstdirektor. Auch das Landschaftsbild sei nun nach dem Sturm vielfach ein anderes. „Die Strecke zwischen Lavazé und der Auerlegeralm ist eine meiner bevorzugten Langlaufstrecken. Es hat mich zutiefst bewegt, als ich bei einem Lokalaugenschein den Leiter der Forststation fragen musste: ‚Wo sind wir?‘ – Diese Gegend kenne ich wie meine Westentasche, doch nun fehlen wichtige Referenzpunkte: Wo 200 bis 300 Jahre alte Bäume standen, steht nun nichts mehr“, schildert Mario Broll. Kleinere Veränderungen könne man ja jährlich feststellen. Diesmal sei es aber anders gewesen: „Wir sahen plötzlich Höfe und Almen, die man vorher nicht einsehen konnte.“ Diese persönlichen Schilderungen zeigen das gesamte Ausmaß der Sturmnacht. „Nach der kurzfristigen Orientierungslosigkeit und dem momentanen Schock wird einem klar, dass man nun unmittelbar reagieren und an morgen denken muss“, betont Broll.

 

Sofort mit den Arbeiten beginnen!

Nach dem Sturm war es wichtig, zügig mit den Aufräumarbeiten zu beginnen. Dabei stand und steht die Sicherheit der Forstarbeiter natürlich immer im Zentrum. Nur wenn das Schadholz entfernt wird, kann der Wald wieder seiner Schutzfunktion gerecht werden. Das herumliegende Holz ist nämlich ein idealer Nährboden für schädliche Parasiten, die dann in Folge auch den „gesunden“ Wald angreifen würden. Darum war es für die Verantwortlichen so wichtig, so bald als möglich alle Forstwege wieder zu öffnen, um den Abtransport des Schadholzes zu ermöglichen. Vollmechanisierte Holzernteverfahren (20 Harvester, 17 Forwarder) haben dazu beigetragen, größtmögliche Sicherheit zu garantieren. 63 Prozent wurden von diesen Gerätschaften verarbeitet, 37 Prozent von Seilkrananlagen. In den vergangenen Monaten wurden insgesamt 463 Materialseilbahnen zum Abtransport des Schadholzes errichtet. Das Landesamt für Forstplanung aktualisiert Neuerrichtungen und Abbrüche täglich im Geobrowser, um damit die Sicherheit auch für Hubschrauber- und Flugzeugpiloten zu erhöhen.

Über 200 Waldarbeiter im Einsatz

Das Forstpersonal ist in insgesamt 121 Standorten aktiv geworden, die Soforteingriffe zur Wiederherstellung des Straßennetzes belaufen sich auf Kosten von 3,5 Millionen Euro. Zum Redaktionsschluss von LP arbeiteten 66 Waldarbeiter in den Sturmgebieten, zu Spitzenzeiten unmittelbar nach dem Windwurf waren es jedoch über 200.

 

Für die Waldbesitzer ist eine Entschädigung vorgesehen, mit rund zwölf Millionen wird die Europäische Kommission dies unterstützen. Für Projekte, die den Schutzcharakter des Waldes wiederherstellen sollen, sind Geldmittel in Höhe von 7,4 Millionen vorgesehen. Das vordergründige Ziel ist es, den Waldboden schnellstmöglich wieder stabil und fruchtbar zu haben. „Wir bauen sehr stark auf die eigene Regenerationsfähigkeit des Waldes durch natürliche Verbreitung und werden diesen Prozess unterstützen“, betont Broll. Die Forstgärten des Landesforstdienstes haben umgehend reagiert und die Zapfengewinnung von Fichte und Lärche gestartet: Vor allem Fichten- und Lärchensamen wurden im Frühjahr ausgesät, außerdem wurden die Bestände an Zirben und Weißtannen aufgefüllt. In den kommenden zwei bis sieben Jahren werden insgesamt zwei Millionen Jungbäume Südtirols Wälder verjüngen. Dies alles soll so natürlich wie möglich erfolgen, weshalb man auf rund 1000 Hektar einen Mischwald errichten möchte.

 

Schnelles Aufräumen dank Autonomie

Es ist ein erster Erfolg, dass nun, neun Monate nach dem großen Sturm, bereits die Hälfte des Sturmholzes aufgearbeitet ist. Dazu beigetragen hat auch die Landesgesetzgebung, die einen sofortigen Einsatz ermöglichte. Dies stand auch bei den Treffen der diversen Interessensgruppen stets im Mittelpunkt. Es kam zu einem glücklichen Zusammenspiel aller Faktoren (inklusive der geringen Schneefälle im vergangenen Winter), das gemeinsam mit dem unbestreitbaren Arbeitsfleiß und der Teamarbeit vor Ort zu diesem hervorragenden Ergebnis geführt hat.

"Wir bauen sehr stark auf die eigene Regenerationsfähigkeit des Waldes durch natürliche Verbreitung und werden diesen Prozess unterstützen.“ Mario Broll

Der Markt hat das gesamte Schadholz aufgenommen. Es ging vor allem nach Österreich. Lärchen und Zirben konnten sogar ihren Marktpreis halten, bei der Fichte kam es hingegen zu einem erheblichen Rückgang in Höhe von 30 bis 40 Prozent. Gerade darum ist es nun wichtig, den Schädlingsbefall so gering wie möglich zu halten, um keine weiteren Verluste einzufahren.

 

Erscheinung des Klimawandels?
Laut Mario Broll ist es möglich, dass Sturmtief Vaia eine beeindruckende Erscheinung des globalen Klimawandels ist. Allerdings ist es nicht die einzige: Broll erinnert daran, dass im Vinschgau in den vergangenen 80 Jahren die Durchschnittstemperatur um 1,5 Grad gestiegen ist. Pflanzen, die vor 100 Jahren unter optimalen klimatischen Voraussetzungen dort gewachsen sind, finden diese nun 300 Höhenmeter höher. Interessant auch, wenn man diese Daten auf makroterritorialer Ebene mit der neuen Verteilung der Niederschläge vergleicht. Im Jahresdurchschnitt sind sie zwar ähnlich geblieben. Aber sie haben sich in Richtung Tagundnachtgleiche verschoben. Das ergibt ein beunruhigendes Bild: wärmer im Sommer, aber auch weniger Wasser – insbesondere dann, wenn Pflanzen (wie Nadelbäume) dies am meisten brauchen.

 

Auch im Winter werden im Durchschnitt weniger Schneefälle verzeichnet, womit sich der Wasserspeicher für den Frühling wiederum verringert. Die Pflanzen werden somit sowohl im Sommer als auch im Winter stärker beansprucht. Gleichzeitig steigen die Temperaturen und die Häufigkeit von Starkregen. Ähnliche Ereignisse wie jenes vom Oktober 2018 könnten sich somit künftig wiederholen. „Sie werden das natürliche Gleichgewicht herausfordern“, ist sich Broll sicher. „Unser Glück ist“, sagt der Landesforstdirektor, „dass wir 49 unterschiedliche Baumarten haben, mehr als 110 natürliche Waldtypen und mehr als 1000 Sträucher.“ Diese Artenvielfalt und ihre Fähigkeit zur Selbstreproduktion erhöht das Reaktionspotential des Ökosystems in Südtirols Wäldern wesentlich.

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