#3 Autonomie
Sein Reichtum an Lebensräumen ist überwältigend. Mit dem Übergang zum Land tritt der Nationalpark Stilfserjoch in eine neue Phase. Potential hat er allemal.

Der Bartgeier fliegt seit einigen Jahren wieder im Nationalpark Stilfserjoch. Hier findet er ideale Lebensraumbedingungen: weite Hochflächen oberhalb der Waldgrenze, eine gute Thermik und ein reichliches Angebot an Huftierkadavern. Vor rund 100 Jahren in den Alpen ausgerottet, hat ein internationales Wiederansiedelungsprojekt den größten Vogel Europas auch ins Trafoi- und ins Martelltal zurückgebracht. “Auch dieses Jahr ist die Bartgeier-Brut geglückt. Mit etwas Glück kann der Jungvogel bei seinen Flugversuchen beobachtet werden”, erklärt Förster Christian Tschenett. Er gehört der Parkstation Stilfs an, die gemeinsam mit den Parkstationen Laas, Martell und Ulten für den Aufsichtsdienst und das Monitoring im Südtiroler Teil des Nationalparks Stilfserjoch zuständig sind.

Die Nestbeobachtung des Bartgeier-Paars erledigt der Förster nebenbei. Sein Arbeitstag dreht sich rund um den Natur- und Wildschutz im Park: “Wir kümmern uns um die Wildregulierung, erheben sämtliche Daten vom Wild, stellen Wildursprungsscheine aus, betreuen die zwei Wildgehege in Stilfs und Trafoi, zählen Rot-, Reh- und Steinwild, und vieles mehr”, sagt der Förster. Die Betreuung von Forschungsprojekten gehört ebenso zu den Aufgabenbereichen wie die zunehmende Besucherinformation und -lenkung. Hinzu kommt die Bearbeitung von Beitragsgesuchen im Bereich Landschaftspflege und die Erhebung von Wildschäden an Kulturlandschaft und Nutztieren. Da kann es schon mal vorkommen, dass man mitten in der Nacht zu einem Wildunfall ausrücken oder in kürzester Zeit eine große Anzahl an Wildschäden erheben muss. “Es braucht ein gutes Gespür nicht nur für die Tiere, sondern auch für die Menschen”, weiß Tschenett aus Erfahrung. Das ist auch dann der Fall, wenn es um das Thema Großraubwild und die damit verbundene Aufklärungsarbeit geht.

 

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Symboltier des Nationalparks Stilfserjoch ist nicht der Bartgeier, sondern der Steinadler, der König der Lüfte. Der Nationalpark Stilfserjoch weist eine der dichtesten Steinadlerpopulationen des Alpenraumes auf.

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Zweitgrößtes Schutzgebiet der Alpen
So vielfältig wie das Arbeitsfeld seiner Förster ist auch der Nationalpark selbst. Er ist ein Hochgebirgspark, sein Herzstück bilden die Berge und Gletscher rund um das Ortler-Cevedale-Massiv. Mit fast 131.000 Hektar Gesamtfläche ist der Nationalpark Stilfserjoch – nach dem österreichischen Nationalpark Hohe Tauern – das zweitgrößte Schutzgebiet in den Alpen und einer von derzeit 24 Nationalparks in Italien.

45 Prozent der Parkfläche liegen in der Lombardei, 14 Prozent im Trentino. Südtirol hat mit 53.495 Hektar immerhin 41 Prozent Anteil am Stilfserjoch-Park. Zehn an der Zahl sind die Nationalpark-Gemeinden im Land: Stilfs, Prad, Glurns, Taufers im Münstertal, Mals, Laas, Schlanders, Martell, Latsch und Ulten. Zwei davon, Stilfs und Martell, liegen sogar mit ihrem gesamten Gemeindegebiet im Park.

Es ist eine Besonderheit des Nationalparks Stilfserjoch, dass dauerbesiedelte Gebiete einbezogen sind. Das stellt eine Herausforderung dar. Die für den Nationalpark zuständige Landesrätin Maria Hochgruber Kuenzer erklärt die Marschrichtung: „Die Menschen im Park sollen mit der Natur leben und in dieser einzigartigen Natur wirtschaften können.“ Ihre Vision geht sogar darüber hinaus: Der Nationalpark soll zur Modellregion für ein gutes Miteinander von Mensch und Natur werden.

Ziel ist es, die Vielfalt der hochalpinen Natur für die Nachwelt zu erhalten. Dabei sind sich viele Südtiroler gar nicht bewusst, dass es – neben den sieben Südtiroler Naturparks – auch einen Nationalpark im Land gibt, oder zumindest Teile davon. Besucher aus dem Ausland hingegen staunen, wenn sie kein Eingangstor vorfinden und kein Eintrittsticket lösen können.

“Im großen Unterschied zu anderen Nationalparks umfasst der Nationalpark Stilfserjoch nicht nur natürliche und naturnahe Lebensräume. Er schließt auch Aufstiegsanlagen, Marmorbrüche, stark vom Menschen genutzte Landschaften und besiedelte Gebiete mit ein”, berichtet Hanspeter Gunsch, Direktor des Landesamtes für den Nationalpark Stilfserjoch. “Das läuft nicht immer konfliktfrei ab.”

“Mit der Verwaltung des Parkes ist es wie es mit unserer Autonomie: Als wir Südtiroler das Paket geschnürt haben, mussten unsere Rechte und unsere Pflichten ausverhandelt werden. Ebenso gilt es, die Rechte und die Pflichten für den Nationalpark auszuverhandeln”, ist Landesrätin Hochgruber Kuenzer überzeugt.

 

„Die Menschen im Park sollen mit der Natur leben und in dieser einzigartigen Natur wirtschaften können.“ Landesrätin Maria Hochgruber Kuenzer

Ungeheurer Reichtum an Arten

Doch nicht nur der Einschluss dauerbesiedelten Gebiets ist eine Besonderheit des Schutzgebiets rund um den höchsten Berg der Zentralalpen. Es reicht von 700 Metern Seehöhe im Mittelvinschgau bis knapp unter 4000 Meter am Ortler und umfasst fünf verschiedene Höhenstufen, von der montanen Nadelwaldstufe bis zur Nivalstufe des Gletschereises. “Durch das Zusammenspiel mit den verschiedenen Gesteins- und Bodentypen entstehen auf kleinem Raum die unterschiedlichsten Lebensräume, ein ungeheurer Reichtum an Arten”, erklärt Ilona Ortler, Leiterin des Besucherzentrums naturatrafoi, das sich mit dem Leben unter den extremen klimatischen Bedingungen des Hochgebirges befasst. Es ist eines von ingesamt fünf Besucherzentren auf Südtiroler Seite, die jeweils einem ganz besonderen Aspekt des Parks gewidmet sind.

“Fünf Besucherzentren mag auf den ersten Blick viel erscheinen”, räumt aquaprad-Leiterin Stefanie Winkler ein. Das sei es aber nicht. Vielmehr würden sie der Größe und Vielfalt des Schutzgebietes und dessen markanten Tälern Rechnung tragen. “Zudem sollen durch die Besucherzentren nicht nur Gäste von außen, sondern vor allem auch die Einheimischen den Nationalpark Stilfserjoch und seine Artenvielfalt besser kennenlernen”, so Winkler. Das helfe auch, seine Akzeptanz zu erhöhen.

Und diese ist im Nationalpark Stilfserjoch seit jeher ein großes Thema. “Es geht insbesondere darum, wie Naturschutz, kulturelle und wirtschaftliche Interessen in einem Schutzgebiet unter einen Hut gebracht werden können“, bringt es Ulrich Pfeifer von avimundus – Die Welt der Vögel, einem Infopunkt des Nationalparks in Schlanders, auf den Punkt. Um die vorhandene Artenvielfalt für die nächsten Generationen zu bewahren, spiele Forschung und Weitergabe von Wissen eine Schlüsselrolle.

Die Verbindung zwischen Natur und Mensch, die bäuerliche Kulturlandschaft, steht im Besucherzentrum culturamartell im Mittelpunkt. Als modernes Heimatmuseum zeigt es das Leben der Bergbauern, und “wie der Mensch sich an seinen Lebensraum angepasst hat”, betont Leiter Florian Felderer. Ebenso wie die Gemeinde Stilfs ist die naturnahe Gemeinde Martell in ihrer Gesamtheit Teil des Nationalparks. Auch wenn dieser – von den Themenwegen bis hin zur Erschließung der Plima-Schlucht –  viel Positives für das Tal gebracht hat, überwiegt traditionell die Skepsis.

 

Ganz anders präsentiert sich die Lage im Ultental: Dass hier der Nationalpark weniger Akzeptanz-Probleme hat, mag daran liegen, dass nur der Talschluss, oberhalb der Ortschaft St. Gertraud, im Nationalparkgebiet liegt. “Die unter Schutz gestellte Natur ist unser Kapital”, unterstreicht Ronald Oberhofer, Leiter des Besucherzentrums lahnersäge, das sich dem Thema Wald und Holz verschrieben hat. Die 200 Jahre alte Venezianersäge kommt bei Vorführungen regelmäßig zum Einsatz, eine Mühle erzählt von der Vergangenheit des Tales als Roggenanbaugebiet. In der Nähe des Besucherzentrums stehen drei imposante Ultner Urlärchen.

 

Touristisches Potential nutzen

“Der Reichtum an Lebensräumen und Landschaften, an pflanzlichen und tierischen Arten in den verschiedenen Höhenstufen des Nationalparks ist immens. Es gibt die historische Passstraße zum Stilfserjoch und ein dichtes Netz an Wanderwegen. Kurzum, das touristische Potential des Parkgebiets ist sehr hoch, noch deutlich ausbaufähig”, analysiert Wolfgang Platter, langjähriger Direktor des Konsortiums Nationalpark Stilfserjoch.  Manche Akteure in Landwirtschaft und Tourismus, aber auch in den Gemeinden, müssten die Chancen, die der Park berge, allerdings erst noch tiefer erkennen.

Nach dem Übergang der Verwaltungskompetenzen vom Staat an die Länder Südtirol und Trentino und die Region Lombardei (siehe “Geschichte kompakt”) erwarten sich die Bauern, dass die Verfahren einfacher werden. “Noch ist das nicht spürbar und die Stimmung dementsprechend verhalten”, gibt Raimund Prugger, Bezirksobmann Vinschgau des Südtiroler Bauernbundes, zu bedenken. “Wir hoffen jedoch, dass dies eintritt.”

"Die unter Schutz gestellte Natur ist unser Kapital.” Ronald Oberhofer

Wer im Nationalpark lebt, soll als Landschaftspfleger und Lebensmittelproduzent künftig verstärkt einen Vorteil daraus ziehen, Berglandwirtschaft und Tourismus besser vernetzt werden. “Der Erhalt der Höfe und der von Menschen geschaffenen Kulturlandschaft liegt uns am Herzen”, unterstreicht Amtsdirektor Hanspeter Gunsch. “Er ist auch für den Erhalt der Artenvielfalt von großer Bedeutung.”

In nächster Zukunft soll das Potential des Nationalparks Stilfserjoch voll zur Entfaltung kommen. Darüber sind sich alle einig. “Seit seiner Einrichtung im Jahr 1935 per Staatsgesetz und ohne Einbezug des Landes und der lokalen Bevölkerung wurde der Nationalpark von der Bevölkerung jahrzehntelang abgelehnt”, blickt Wolfgang Platter zurück. Über 80 Jahre danach sei der Park keine Bestrafung, sondern eine Entwicklungschance des peripheren ländlichen Raums. Auch in der Natur passiert Veränderung nicht von heute auf morgen. Davon zeugt die Wiederansiedelung des Bartgeiers.

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Nationalpark Stilfserjoch – Geschichte kompakt

1935 wurde der Nationalpark Stilfserjoch per Staatsgesetz eingerichtet. Von 1935 bis 1995 übertrug der italienische Staat die Führung und Verwaltung den Staatsforstkorps ASFD (Azienda Statale Foreste Demaniali). “Von Beginn an war dauerbesiedeltes und bewirtschaftetes Gebiet und bergbäuerliches Siedlungsgebiet in den Nationalpark eingeschlossen. Dies führte wegen der Nutzungskonflikte zu starken Spannungen, die sich im Lauf der Jahre wegen der Rotwild-Schäden an landwirtschaftlichen Kulturen, Almen und im Forstbestand besonders nach dem Jagdverbot ab 1983 noch verschärften”, so Wolfgang Platter. Eine Beteiligung an den Entscheidungsgremien gab es nicht. Es war eine Zeit der Ablehnung des Nationalparks in Südtirol.

Mit dem Einvernehmensprotokoll von Lucca 1992 wurde festgelegt, den Nationalpark als Konsortium zwischen dem Staat und den Ländern Lombardei, Trentino und Südtirol zu führen. Von 1995 bis 2016 verwaltete das Konsortium, das seinen Sitz in Bormio hatte, den Nationalpark Stilfserjoch. Es wurden Führungsausschüsse auf Länderebene eingeführt. “In diesen 20 Jahren ist eine bessere Nähe zum Territorium entstanden. Bausteine dafür waren die Abgeltung der Wildschäden, die Beiträge für Landschaftspflegemaßnahmen, die Reduzierung des Rotwildbestandes seit 1997, aber auch die Realisierung der fünf Besucher- und Informationszentren und die zahlreichen Forschungs- und Monitoringprojekte zur Erhaltung der Biodiversität. Auch die Verkleinerung der Nationalparkfläche um circa 2600 Hektar hat zur Akzeptanz des Nationalparks beigetragen”, betont Platter.

 

Der Übergang der Verwaltungskompetenzen des Nationalparks Stilfserjoch vom Staat  auf die Länder Südtirol und Trentino sowie auf die Region Lombardei wurde mit der politischen Grundsatzvereinbarung vom Februar 2015 konkret. Im Dezember 2015 genehmigte der römische Ministerrat dann die Änderung der Durchführungsbestimmung zum Autonomiestatut zum Nationalpark Stilfserjoch. Mit dem Legislativdekret des Staatspräsidenten vom Jänner 2016 wird das Konsortium Nationalpark Stilfserjoch aufgelöst. Die Verwaltung des Parks wird seitdem in den jeweiligen Flächen von der Region Lombardei und den Autonomen Provinzen Trient und Bozen wahrgenommen. In der Landesverwaltung betreut die Abteilung 28, die die Naturparke und das UNESCO-Welterbe verwaltet, auch den Nationalpark Stilfserjoch.

 

2018 verabschiedet der Südtiroler Landtag das “Landesgesetz zur Führung und Organisation des Nationalparks Stilfserjoch”, das die Grundsätze für die eigenständige Verwaltung des Südtiroler Parkanteils regelt. Auch der Führungsausschuss für den Südtiroler Parkanteil unter der Präsidentschaft des Marteller Bürgermeisters Georg Altstätter wird eingesetzt. Damit garantiert das Land Südtirol, dass die Bedürfnisse der Anliegergemeinden oder vielmehr ihrer Bevölkerung Berücksichtigung finden. In Zusammenarbeit mit den Nationalparkgemeinden und lokalen Interessensgruppen entsteht das Strategiepapier zur „Modellregion für nachhaltiges Leben und Wirtschaften in den Alpen“. Die Landesregierung beauftragt IDM-Südtirol mit der Umsetzung des dreijährigen Projektes „Touristische und landwirtschaftliche Entwicklung des Nationalparks Stilfserjoch“. Im Zuge dessen wurde der neue 120 Kilometer lange Ortler Höhenweg eingeweiht, eine der anspruchsvollsten Höhenrouten im Alpenraum.

 

Derzeit läuft das Verfahren zur Genehmigung des Parkplans und der Parkordnung für den Nationalpark Stilfserjoch.

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