#1 Innovation
Ein möglichst langes, autonomes Leben in den gewohnten vier Wänden durch Technologien der altersgerechten Assistenzsysteme (AAL) wird auch Südtirol bereits erfolgreich getestet.

Eine Frau, Anfang bis Mitte 70, rüstig, mobil und geistig fit stolpert in ihrer Wohnung oder im Garten und kommt nicht mehr auf die Beine. Sie lebt allein im Haus. Sie ruft nach Hilfe, doch die Angehörigen sind außer Haus, die Nachbarn sind zu weit weg, das eigene Handy nicht in Reichweite. Was tun?
Eine Situation wie diese hat Anna Prackwieser vor einiger Zeit erlebt – mit der Ausnahme, dass ihre Schwiegertochter und die Enkel im Haus waren und ihre Hilferufe gleich vernommen wurden. „Wäre ich allein gewesen, weiß ich nicht, was passiert wäre – ich bin ja nicht mehr weitergekommen“, erzählt die Hausfrau aus Andrian. Heute habe sie in dieser Situation ein größeres Gefühl der Sicherheit, denn Anna Prackwieser ist eine der 20 Testpersonen des Projektes „gAALaxy“, das unter der wissenschaftlichen Begleitung des Forschungszentrums Eurac Research aktuell die zweite Projektphase durchläuft.

Digitale Hilfsmittel kommen im Praxistest in Andrian zum Einsatz.

gAALaxy“ ist ein internationales Forschungs- und Entwicklungsprojekt, das ältere Menschen darin unterstützen soll, länger autonom und selbstständig in den eigenen vier Wänden leben zu können. Zentral ist dabei die Kombination von Hausautomationssystemen mit Produkten aus dem Bereich der Altersgerechten Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben (bzw. Active Assisted Living, kurz AAL). Das von der EU und in Italien vom Ministerium für Unterricht, Universitäten und Forschung MIUR geförderte Projekt läuft seit Mai 2016 bis April 2019 und wird gemeinsam von Eurac Research, der Privatklinik Villa Melitta und in Kooperation mit dem Landesrettungsverein Weißes Kreuz abgewickelt. Es reiht sich im Institut für Public Management von Eurac Research ein in bereits abgeschlossene oder noch laufende Projekte im Bereich der sogenannten Smart Living Technologies. Gemeint sind damit technische Hilfsmittel, die den Alltag erleichtern und unterstützen.

Die zentrale Steuerungseinheit ist das "Hirn" des Projektes gAALaxy.

Braucht Südtirol Smart Living Technologies beziehungsweise AAL-Lösungen? Wenn man sich die Altersstruktur der vergangenen Jahre anschaut, lässt sich eine Schlussfolgerung kaum vermeiden: Südtirol wird älter. Im Jahr 2017 betrug die Lebenserwartung einer Südtirolerin 85,9 Jahre, Männer erreichen in Südtirol durchschnittlich ein Alter von 81,1 Jahre. Im Jahr 2016 lag das Durchschnittsalter noch bei 85,7 bzw. 80,8 Jahren. Das Landesstatistikinstitut (ASTAT) hat berechnet, dass auf 100 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren im Vorjahr 122,7 ältere Menschen (das heißt 65 Jahre und mehr) kommen. Die Menschen in Südtirol werden somit immer älter, wodurch sich auch die Anforderungen der Bevölkerung verändern.

Im September 2015 hat der Südtiroler Landtag die Landesregierung beauftragt, sich des Themas des demographischen Wandels anzunehmen. In diesem Zusammenhang wurden im Juni 2018 nach intensiven und wichtigen Vorarbeiten insgesamt 10 Handlungsempfehlungen vom Institut für Regionalentwicklung (Eurac Research) im Auftrag des Ressorts Gesundheit, Sport, Soziales und Arbeit erarbeitet, mit denen sich Südtirol bestmöglich auf die anstehenden Herausforderungen vorbereiten soll. Dabei ziehen sich Stichworte wie Digitalisierung und Innovation wie ein roter Faden durch eine Vielzahl der vorgeschlagenen Strategien. Verbunden damit ist die Forderung, das Erlernen von Kompetenzen im Umgang mit digitalen Technologien zu ermöglichen und praktische Lösungen zu unterstützen und anzuwenden.

Der Sensor am Kühlschrank ist ein Teil der digitalen Hilfsmittel des Projektes gAALaxy.

Genau dieses Ziel verfolgen die laufenden und zum Teil bereits abgeschlossenen Projekte im Bereich der AAL-Technologien. Es geht darum, die bereits heute bestehenden Möglichkeiten zu testen, aber auch sie bekannt zu machen und eine mögliche Skepsis abzubauen. Ältere Menschen haben zum Teil Angst Fehlalarme auszulösen oder einen „falschen Knopf“ zu drücken, doch genau darum werden Projekte wie „gAALaxy“ entwickelt. So wird beim laufenden Pilotprojekt mit einer Notfalluhr (2PCS – Personal Protection and Caring System), einem 3D-Sturzsensor und einer Smart Home Steuerungseinheit gearbeitet.

Die Notfalluhr ist das Produkt eines internationalen Projektes, das ebenfalls vor einigen Jahren von der Europäischen Kommission und diversen staatlichen Förderstellen wie dem Ministerium für Bildung, Universität und Forschung initiiert wurde. Auch bei diesem Projekt waren Eurac Research und die Privatklinik Villa Melitta als Partner beteiligt. Dabei kann man über einen zentralen Alarmknopf Hilfe holen, indem ein Telefonat mit einer Notrufzentrale, wie zum Beispiel jene des Weißen Kreuzes, gestartet wird und gleichzeitig die Einsatzzentrale alle wichtigen Daten zu Standort und Position der Uhr oder des Uhrträgers übermittelt werden. „Der Service ist nicht die Uhr an sich, mit ihrem Notrufknopf, sondern das Eskalationsmanagement, das die Software im Hintergrund abwickelt“, betont Sonja Vigl, Eurac-Mitarbeiterin und Mitglied des Projektteams. Wenn eines der installierten Teilsysteme einen Alarm abgibt, erfolgt im Hintergrund eine Rückkoppelung mit den jeweils anderen Bestandteilen des gesamten Systems. Wenn der Sturzsensor beispielsweise feststellt, dass in dem festgelegten Bereich am Küchenboden eine Person sich nicht bewegt, wird ein Notruf generiert, der über eine Schnittstelle zur Notfalluhr direkt die Notrufzentrale alarmiert. Auch außerhalb der eigenen vier Wände erhöht sich die Sicherheit, da die Uhr über GPS im Notfall lokalisiert werden kann. Über das System der Uhr wird schließlich ein Alarm an die Notrufzentrale geschickt, welche dann zunächst direkt über die Uhr mit der älteren Person sprechen kann und sich bei Bedarf auch mit den angegebenen Kontaktpersonen aus dem Umfeld des Nutzers in Kontakt setzen kann. „Die Innovation von gAALaxy ist jedoch, dass es eine Verbindung von AAL-Technologien mit bereits am Markt befindlichen Produkten herstellt“, präzisiert die Südtiroler gAALaxy-Mitarbeiterin Ines Simbrig.

Die Uhr wird zum Notfallhandy, v.a. dann wenn das eigene Smartphone nicht greifbar ist.

Im Landesamt für Senioren und Sozialsprengel kennt man vergleichbare Projekte und Bestrebungen in diesem Bereich. Der Fokus liegt derzeit im Bereich des begleiteten Wohnens und der Seniorenwohnheime. Das Thema sei bisher nicht vordergründig behandelt worden, doch seien Visionen diesbezüglich vorhanden und es wird in den nächsten Jahren in den Mittelpunkt rücken, bestätigt Amtsdirektorin Brigitte Waldner. Digitale Hilfsmittel könnten Vorteile mit sich bringen und fänden zum Teil bereits Anwendung. „Es ist eine neue Welt, die sich hier öffnet und weit über einen Notruf und eine Uhr hinaus geht, da sie in erster Linie Sicherheit garantieren soll“, so Waldner. So wagt beispielsweise die Bezirksgemeinschaft Brixen zurzeit einen Versuch in diesem Bereich. Auch die Gemeinde Bozen, die sich als Vermittlerin von Testpersonen am Projekt gAALaxy beteiligt und mit Eurac Research kooperiert, engagiert sich stark in diesem Bereich. Eine zentrale Überlegung ist dabei, mithilfe technischer Unterstützung die Menschen länger im eigenen sozialen Umfeld zu halten. Im Umkehrschluss würde sich damit die Nachfrage nach Betreuungsplätzen in Seniorenwohnheimen nach hinten verschieben beziehungsweise minimiert werden. Zudem nutzt das Personal in den Heimen bereits heute technische Hilfsmittel: Ein Teppich vor dem Bett meldet beispielsweise, dass die Person aufgestanden ist, oder die Uhr, mit der an Demenz erkrankte Personen ausgestattet werden, damit sie mehr Freiheit haben, gibt dem Personal jederzeit Auskunft darüber, wo sie sich befinden. Der Einsatz solcher Hilfsmittel sei sinnvoll und immer mit dem Ziel auszubauen, dass Personal unterstützt und nicht ersetzt wird, betont Abteilungsdirektorin Waldner. AAL-Technologien könnten somit unterstützend eingesetzt werden, damit mehr Zeit bleibt für den persönlichen und menschlichen Kontakt, das sei das Ziel, fasst Brigitte Waldner zusammen.

Kritiker führen zudem mögliche Datenschutzprobleme ins Feld. Gerade aus diesem Grund sind Pilotprojekte von großer Bedeutung – nicht nur um die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten auszuloten, sondern auch um Skepsis und Kritikpunkten entgegenzutreten und den Gegenbeweis zu liefern. Südtirols Innovationspotential ist auch im Bereich der Pflege noch nicht vollständig ausgeschöpft. Vor allem im Hinblick auf die zunehmende Alterung der Bevölkerung in Südtirol und den sich damit verändernden Anforderungen, werden individuelle Pakete als Lösungsmodelle in diesem Bereich von Nöten sein und immer wichtiger. Einige Bürgerinnen und Bürger in Südtirol sind bereits soweit und führen ein von technischen Innovationen unterstütztes, smartes Leben. Auf die Frage, ob Anna Prackwieser bereit wäre, noch über die Testphase bis im April 2019 hinaus die installierten Geräte im Haus zu lassen, antwortet sie ohne Zweifel: „Ich kann mir gut vorstellen, dass die Apparate auch länger dableiben … Ich werde ja nicht jünger, und da ist es gut, wenn man sich sicher fühlt.“

 

Für das neue Projekt von Eurac Research mit dem Titel i-evAALution werden noch Testpersonen im Raum Bozen gesucht. Die Testphase startet im April 2019, Voraussetzungen sind folgende: über 65 Jahre alt, alleine lebend, Interesse an Technologie und Bereitschaft an einem internationalen Forschungsprojekt mitzuwirken. Für die Testpersonen fallen keinerlei Kosten an. Interessenten melden sich bitte unter 0471 055 416 oder public.management@eurac.edu.

 

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